Epidemiologe Marcel Salathé über Nutzen und Grenzen der Contact-Tracing-App
«Ein zweites Mal sind wir viel besser vorbereitet»

Epidemiologe Marcel Salathé erklärt, wie seine Contact-Tracing-App mithelfen kann, das Risiko einer zweiten Infektionswelle zu minimieren. Und was sie nicht zu leisten vermag.
Publiziert: 06.05.2020 um 23:42 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2020 um 07:21 Uhr
«Ein zweites Mal sind wir viel besser vorbereitet»
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Marcel Salathé zur Corona-App:«Ein zweites Mal sind wir viel besser vorbereitet»
Interview: Gianna Blum

Marcel Salathé (44) kommt gerade aus einem Online-Hearing mit der parlamentarischen Gruppe «Digitale Nachhaltigkeit». Der Epidemiologe der ETH Lausanne (EPFL) hat den Politikern erklärt, wie seine Contact-Tracing-App funktioniert, und Stellung genommen zur Frage, ob die App zur Überwachung missbraucht werden könne. Auch BLICK erklärt er am Telefon die Handy-Software.

Die Armee half mit, die App zu entwickeln, indem sie diese testete.
Foto: keystone-sda.ch
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BLICK: Herr Salathé, die Lockerung der Massnahmen kommt schneller als gedacht. Riskiert die Schweiz eine zweite Infektionswelle?
Marcel Salathé: Das glaube ich nicht! Ich bin optimistisch und vertraue da der Schweizer Bevölkerung. Sicher ist jeder froh, wenn es Lockerungen gibt. Und wenn die Ansteckungsrate wider Erwarten wieder ansteigt, sind wir diesmal viel besser vorbereitet. Gerade die Contact-Tracing-App macht da einen riesigen Unterschied. Ich wünschte, wir hätten sie von Anfang an gehabt.

Wann kommt sie denn nun?
Technisch gesehen sind wir Mitte Mai bereit. Ob das nun der 11. Mai ist oder ein paar Tage später, hängt auch noch von Google und Apple ab. Was die Einführung betrifft, ist das auch eine Frage der Politik, das wird entscheidend.

Inwiefern?
Es ist vor allem wichtig, auch bei der Gesetzgebung das Tempo beizubehalten. Man darf nicht vergessen, dass wir mit diesem Virus nach wie vor ein Hochgeschwindigkeitsproblem haben. Man darf es sich nicht zu gemütlich machen.

Das Parlament will aber die rechtliche Grundlage der App klären. Vorerst wird sie als Test eingeführt. Was bedeutet das für das Contact Tracing?
Auf das klassische Contact Tracing, das die Kantone machen, hat das keinen Einfluss. Für die App heisst das, dass ihre breite Einführung massgeblich von der politischen Geschwindigkeit mitbestimmt wird.

Wie würden Sie kurz zusammenfassen, wie die App funktioniert?
Die App erstellt ein anonymes Logbuch der Menschen, mit denen man mit weniger als zwei Meter Abstand länger als 15 Minuten in Kontakt war. Wer positiv getestet wurde, erhält einen Code. Sobald dieser in die App eingegeben wird, werden die entsprechenden Kontakte informiert. Alles funktioniert anonym via Bluetooth, Standortdaten werden nicht erfasst.

Mr. Corona-App

Marcel Salathé (44) ist Spezialist für Digitale Epidemiologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne. Salathé ist Mitglied der «Taskforce Covid-19», des wissenschaftlichen Corona-Beirats von Bund und Kantonen. Innerhalb der Taskforce steht Salathé der Expertengruppe Digital Epidemiology vor, die sich um Datenaustausch und App kümmert.

Marcel Salathé an der Arbeit.

Marcel Salathé (44) ist Spezialist für Digitale Epidemiologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne. Salathé ist Mitglied der «Taskforce Covid-19», des wissenschaftlichen Corona-Beirats von Bund und Kantonen. Innerhalb der Taskforce steht Salathé der Expertengruppe Digital Epidemiology vor, die sich um Datenaustausch und App kümmert.

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Und was kann Ihre App nicht? Wo gibt es noch Baustellen?
Sie kann ganz vieles nicht! Das ist ja gerade das Design der App, sie sammelt keine Daten. Offen sind noch technische Fragen – etwa wie gut die Bluetooth-Technologie die zwei Meter Abstand abbilden kann. Wir verlassen uns da stark auf die Hilfe von Apple und Google, die sich damit auch besser auskennen.

Das sind aber beides Konzerne, die nicht gerade berühmt dafür sind, den Datenschutz grosszuschreiben …
Das Risiko einer App ist, dass ständig neue Features dazukommen, bis am Schluss dann wirklich eine Form der Überwachung möglich ist. Die Technologie, die wir an der ETH und der EPFL entwickelt haben, verhindert das. Apple und Google unterstützen diesen Ansatz. Das finde ich sehr schön! Trotzdem folge ich da der Devise: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Sobald die Krise vorbei ist, muss auch die App abgestellt werden.

Oft ist zu lesen, dass 60 Prozent der Bevölkerung die App installieren müssen, damit sie etwas bringt. Wie realistisch ist das?
Das stimmt so nicht. Die 60 Prozent beziehen sich auf das grundsätzliche Nachverfolgen von Infektionsketten. Es gibt neuere Forschung, die zeigt, dass jede Installation hilft. Auch wenn nur 20 oder 30 Prozent die App nutzen, würde das schon einen enormen Beitrag zur Abschwächung der Pandemie leisten.

Es heisst, die App könne das traditionelle Contact Tracing nur unterstützen. Braucht es sie denn überhaupt?
Die App kann tatsächlich nur unterstützen, aber diese Unterstützung ist sehr wichtig! Die Kantone können nicht ewig 1000 bis 2000 Leute fürs Contact Tracing im Einsatz haben. Die App hilft da langfristig, aber auch kurzfristig beim Tempo der Nachverfolgung.

Langfristig? Sie betonen doch selbst, dass man die App so schnell wie möglich abstellen muss, wenn sie nicht mehr nötig ist.
Ja, aber damit meine ich nicht eine tiefe Infektionsrate. Die App und das Nachverfolgen sind dann nicht mehr nötig, wenn entweder ein Impfstoff oder ein zuverlässig wirksames Medikament da ist.

Dem Bund stellt man nicht das beste Zeugnis aus, wenn es um die Digitalisierung geht – Stichwort Datenübermittlung per Fax. Welche Chancen hat da die App?
Das ist ja eben das Clevere an der App: Das Herz des Systems ist auf den Smartphones selbst. Einen Server aufzustellen, der nur ID-Daten weiterleitet, ist technisch relativ einfach, das kann der Bund problemlos.

Sie selbst haben oft darauf gepocht, die Politik solle mehr auf die Wissenschaft hören. Nur: Diese widerspricht sich ja recht häufig.
Es gibt immer unterschiedliche Auffassungen. Und zu Beginn der Pandemie wusste man gar nichts über das Virus. Aber: Es gibt grundsätzliche Regeln in der Epidemiologie, die immer gelten. Dass es bei einer hohen Reproduktionszahl zu explosionsartigen Ansteckungsraten kommt, wissen wir aus jahrelanger Forschung.

Trotzdem, so klar ist die Meinung der Wissenschaft nicht immer.
Das wird oft hochgespielt. Es gibt Themen, da ist die Wissenschaft fast im totalen Konsens, aber wenn einige wenige Forscher eine abweichende Meinung haben, gibt es daraus schon Schlagzeilen. Und ich denke, man muss auch unterscheiden zwischen der Wissenschaft an sich und dem einzelnen Forscher. Jeder darf seine eigene Meinung äussern – ich bin da ja keine Ausnahme. Aber das muss nicht stellvertretend für die ganze Wissenschaft stehen.

Wie hoch sind eigentlich die Kosten für die App?
Das ist schwierig zu sagen. Bislang ist die Forschung innerhalb der wissenschaftlichen Organisation von der ETH und der EPFL gedeckt. Zusätzlich haben wir eine 3,5-Millionen-Spende der Stiftung Botnar erhalten, das sollte die Kosten decken.

Die App soll freiwillig sein, da sind sich fast alle einig. Es wird aber befürchtet, Arbeitgeber könnten die App-Installation verlangen.
Dieses Risiko schätze ich als sehr gering ein. Das entspricht nicht der Schweiz, das liegt nicht in unserer Kultur. Zusätzlich ist man gesetzlich extrem gut geschützt. Ein Arbeitgeber darf zum Beispiel nicht nach Daten fragen, die nichts mit der Arbeit zu tun haben. Persönlich fände ich es toll, wenn das Verbot einer solchen Diskriminierung in ein entsprechendes Gesetz aufgenommen würde.

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