Demografie-Forscher hält 10-Millionen-Schweiz für unwahrscheinlich
«Es gibt weniger Leute, die zu uns kommen werden»

Die SVP will mit einer Volksinitiative eine 10-Millionen-Schweiz verhindern. Dass die Schweiz tatsächlich derart wächst, hält Demografie-Forscher Hendrik Budliger für unwahrscheinlich.
Publiziert: 05.07.2023 um 20:25 Uhr
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Aktualisiert: 05.07.2023 um 20:50 Uhr
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Ruedi StuderBundeshaus-Redaktor

Die SVP warnt vor einer 10-Millionen-Schweiz und will diese mit einer neuen Volksinitiative verhindern. Der Nationalrat wiederum verlangt vom Bundesrat einen Bericht, wie eine 10-Millionen-Schweiz gemeistert werden kann.

Noch schreitet das Bevölkerungswachstum voran, und das Bundesamt für Statistik (BFS) rechnet in seinem jüngsten Referenzszenario von 2020 mit 10,4 Millionen Einwohnern im Jahr 2050. Ein Szenario, das bald einmal korrigiert werden könnte, wie Demografie-Forscher Hendrik Budliger (48) im Blick-Interview erklärt.

Blick: Herr Budliger, hierzulande geht das Gespenst einer 10-Millionen-Schweiz um. Müssen wir uns davor fürchten?
Hendrik Budliger: Das BFS erstellt regelmässig die Szenarien für die Bevölkerungsentwicklung. Im mittleren Szenario erreichen wir die 10-Millionen-Grenze im Jahr 2040, im hohen Szenario sogar schon 2034. Für wahrscheinlicher halte ich das tiefe Szenario, wonach wir die 10 Millionen gar nie übertreffen werden. Danach liegt der Peak bei 9,5 Millionen Menschen, und die Bevölkerung wird dann stagnieren, wenn nicht sinken.

Wie viele Menschen leben dereinst in der Schweiz?
Foto: Keystone
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Der Demografie-Experte

Hendrik Budliger ist Leiter von Demografik, einem Kompetenzzentrum für Demografie. Er studierte Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften an der Universität St. Gallen sowie Innovationsmanagement an der FH Kaleidos in Zürich und ist diplomierter Finanzberater.

Hendrik Budliger ist Leiter von Demografik, einem Kompetenzzentrum für Demografie. Er studierte Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften an der Universität St. Gallen sowie Innovationsmanagement an der FH Kaleidos in Zürich und ist diplomierter Finanzberater.

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Wie bitte? Seit 2002 wächst die Bevölkerung im Schnitt um 0,9 Prozent jährlich. Jedes Jahr kommen 74'000 Personen hinzu. Damit werden wir in 10 bis 15 Jahren die 10-Millionen-Grenze knacken.
Nur, wenn es im bisherigen Tempo weitergeht. Einige Anzeichen zeigen aber in eine andere Richtung. So ist die Geburtenrate in der Schweiz auf aktuell 1,38 Kinder pro Frau gesunken. Zum Vergleich: In Frankreich beträgt die Quote 1,84. Der wichtigste Faktor ist aber die Zuwanderung.

Die ist seit Jahren auf hohem Niveau stabil. Die ständige ausländische Wohnbevölkerung hat alleine letztes Jahr um mehr als 80'000 Personen zugenommen.
Die entscheidende Frage ist, ob das so bleibt. Mehr als zwei Drittel der Zuwanderung kommen aus Europa – mit Ländern wie Deutschland, Italien, Frankreich oder Portugal an der Spitze. Ausser Frankreich sind das alles Länder, in welchen die erwerbstätige Bevölkerung der 20- bis 64-Jährigen bis 2040 deutlich abnimmt. In Deutschland beispielsweise um 14 Prozent.

Was bedeutet das für uns?
Die Bevölkerung in Europa schrumpfte letztes Jahr um eine halbe Million Menschen. Bei der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter von 20 bis 64 werden es dieses Jahr sogar 2,7 Millionen Menschen weniger, weil jedes Jahr so viele Menschen ins Rentenalter kommen und zu wenig junge Menschen nachrücken. Das heisst: Es gibt weniger Leute, die zu uns kommen werden, weil sie zu Hause dringend gebraucht werden. Ein Beispiel: Seit 2019 wandern jedes Jahr mehr Personen von der Schweiz nach Portugal aus, als aus Portugal in die Schweiz ziehen. Hier handelt es sich vor allem um junge Familien. Diese Leute werden uns fehlen.

Die Schweiz ist als Arbeits- und Lebensort doch attraktiv genug, dass genügend Leute kommen.
Ich halte die Schweiz für ein sehr attraktives Land. Dennoch hat sie relativ zu anderen Ländern an Vorsprung eingebüsst, wenn man alle Faktoren miteinbezieht. Die Löhne sind zwar hoch, aber eben auch die Lebenskosten. Erst recht, wenn Kinder dazukommen. Dann braucht man mehr Geld für die Wohnung oder für die Kinderbetreuung. Gerade Eigenheim ist in der Schweiz unerschwinglich. Kinderbetreuung wird in anderen Ländern stärker vom Staat subventioniert. Macht man die Gesamtrechnung, bleibt vielen Familien im Herkunftsland trotz tieferen Löhnen mehr Kaufkraft in der Tasche. Kommt hinzu, dass die Herkunftsländer aktiv um ihre Leute kämpfen.

«Portugal oder Italien locken Rückkehrer mit Steuergeschenken», sagt Demografie-Forscher Hendrik Budliger.
Foto: Zvg

Wie zum Beispiel?
Portugal oder Italien locken Rückkehrer mit Steuergeschenken. Oder mit einer deutlich besseren externen Kinderbetreuung als in der Schweiz. Gerade in den skandinavischen Ländern oder in Frankreich mit staatlich finanzierter Kinderbetreuung ist die Geburtenrate deutlich höher als in der Schweiz. Angesichts der Entwicklung in den umliegenden Ländern ist es gefährlich für die Schweiz, wenn sie sich auf dem jetzigen Standard ausruht.

Das wird doch zu einem Teufelskreis. Mehr Angebote, um mehr Zuwanderer in die Schweiz zu holen, die dann wieder mehr Angebote brauchen – Strassen, ÖV, Wohnungen, Schulen, Gesundheitsversorgung und, und, und. Die Spirale dreht sich immer weiter.
Es ist immer ein Abwägen, was die richtige Lösung ist. Klar ist aber, dass wegen der Überalterung der Bevölkerung immer mehr Rentnerinnen und Rentner auf immer weniger Erwerbstätige kommen. Sind es jetzt noch 3,3 Erwerbstätige auf einen Rentner, werden es 2040 noch 2,3 sein. Die demografische Lücke wird immer drastischer und ist schon mit der jetzigen Zuwanderung nicht zu schliessen. Die Einwanderung ist demografisch gesehen nicht das Problem, sondern die Überalterung.

Was heisst das für die Zukunft?
Die Frage ist doch, was passiert, wenn unsere Gesellschaft überaltert und immer weniger Leute zu uns kommen. Wer füllt die Lücke auf dem Arbeitsmarkt? Was bedeutet das für unsere Sozialwerke oder für die Steuereinnahmen? Selbst wenn die Zuwanderung mit netto 70'000 stabil bleibt, wird sich die Situation brutal verschlechtern. Wir müssen uns mehr Gedanken über die Altersstruktur machen als über die Bevölkerungszahl.

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