«Wir brauchen Kompetenzen und nicht eine Personenfreizügigkeit»
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SVP-Präsident Marco Chiesa:«Bei einer 10-Millionen-Schweiz gibts nur Probleme»

SVP-Chef Chiesa kämpft gegen «10-Millionen-Schweiz»
«Mehr Zuwanderung heisst weniger Wohlstand»

Die SVP sammelt Unterschriften gegen die Zehn-Millionen-Schweiz. Parteipräsident Marco Chiesa stört sich am Familiennachzug – und möchte Flüchtlinge nach Ruanda abschieben.
Publiziert: 02.07.2023 um 00:51 Uhr
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Aktualisiert: 02.07.2023 um 10:56 Uhr

Diese Woche machte ein Bild die Runde, das Schweizer Soldaten beim muslimischen Gebet zeigt. Die SVP fragte, was als Nächstes komme: «Kinder-Ehen, Scharia-Gerichte, Steinigungen». Herr Chiesa, ist im Wahlkampf wirklich alles erlaubt?
Marco Chiesa: Auf jeden Fall darf es keine Meinungsverbote geben. Die SVP will keine schleichende Islamisierung des Landes – weder in der Gesellschaft, an den Schulen noch in der Armee. Die Bundesverfassung garantiert die Glaubensfreiheit. Wie gehen wir aber mit einer Religion um, die selber keine Glaubensfreiheit vorsieht? Oder die Gleichberechtigung der Frau nicht akzeptiert und sogar die Todesstrafe für Homosexuelle zulässt? Wie die Burka-Abstimmung gezeigt hat, will die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung hier klare Grenzen setzen.

Sind Muslime für Sie keine Schweizer?
Jeder, der einen Schweizer Pass hat und unsere Werte respektiert, ist Schweizer. Das gilt selbstverständlich auch für Schweizer muslimischen Glaubens.

Feldgottesdienste fanden in der Armee schon immer statt. Weshalb sollen diese christlichen Soldaten vorbehalten sein?
Wir haben drei anerkannte christliche Landeskirchen in der Schweiz. Eine Ausweitung dieses Status auf andere Religionsgemeinschaften lehnen wir ab.

SVP-Präsident Marco Chiesa will dank einer neuen Initiative die 10-Millionen-Schweiz verhindern.
Foto: Philippe Rossier
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Ihre Partei macht vor den Wahlen erneut die Zuwanderung zum Thema. Fühlen Sie sich in der Schweiz denn noch wohl, Herr Chiesa?
Ja, mit Betonung auf: noch. Ich befürchte aber, dass unsere Kinder weniger Wohlstand geniessen werden. Mein Vater hatte es nicht einfach in den 60ern und 70ern. Aber jedes Jahr ging es etwas besser. Inzwischen sind viele unserer Vorteile weg. Die massive Zuwanderung ist ein Problem! Im Tessin hatten wir früher 35'000 Grenzgänger, heute sind es 80'000. Das verursacht riesige Verkehrsprobleme, es belastet die Umwelt und den Arbeitsmarkt – die Löhne sind massiv unter Druck.

Sie wollen die Zuwanderung mit der Nachhaltigkeits-Initiative bremsen.
Im Kern geht es um die Frage: Wie viele und welche Menschen wollen wir in der Schweiz? Wir wollen keine Zehn-Millionen-Schweiz. Wir möchten nicht, dass unsere Landschaft zubetoniert wird. Dazu kommen die Probleme in den Schulen, die steigende Gewaltbereitschaft, der Verlust unserer Identität.

Mit Ihrer Initiative stellen Sie – wieder einmal – die Personenfreizügigkeit infrage.
Die Initiative beginnt zu wirken, wenn die Schweiz 9,5 Millionen Einwohner hat. Bis dahin hat die Wirtschaft Zeit, sich anzupassen und vermehrt auf Inländer statt auf Zuwanderer zu setzen. Wenn die Schwelle überschritten wird, muss der Bund Massnahmen vorschlagen, um die Zuwanderung zu bremsen – insbesondere im Asylbereich und beim Familiennachzug. Wenn das nicht funktioniert und die 10-Millionen-Schwelle überschritten wird, muss der Bund das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU neu verhandeln.

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Schon heute schliessen Spitäler, weil Pflegepersonal fehlt. Ohne Personenfreizügigkeit wäre der Mangel noch viel gravierender.
In den letzten 20 Jahren kamen 1,5 Millionen Menschen in die Schweiz, und trotzdem haben wir zu wenig Fachpersonal. Da stimmt doch etwas nicht. Wenn wir die Zuwanderung nicht so steuern, dass sie unseren Interessen dient, werden wir nie aus diesem Teufelskreis herauskommen. Mit der Zuwanderung ist es wie mit dem Wasser: Wenn wir es tröpfchenweise dazu verwenden können, um unsere Blumen zu giessen, ist alles gut. Kommt das Wasser aber sintflutartig, bleiben am Ende nur grosse Schäden.

Ohne Einwanderung können wir den Wohlstand nicht halten.
Wir fordern Qualität, nicht Quantität! Wenn Fachkräfte fehlen, sollen Fachkräfte kommen. Damit habe ich kein Problem. Nun ist es aber so, dass wir nur ein Fünftel der Leute, die kommen, wirklich benötigen. Gleichzeitig gibt es in der Schweiz Zehntausende Arbeitslose.

Die Leute kommen nur, wenn sie einen Arbeitsvertrag haben.
Wie ist es dann möglich, dass in einem Jahr, in dem 80'000 Menschen zusätzlich in die Schweiz kommen, immer noch Fachkräftemangel herrscht? Ein Drittel ist Familiennachzug. Diese Menschen arbeiten nicht, nehmen aber Infrastruktur und Dienstleistungen in Anspruch.

Will die SVP den Familiennachzug verbieten?
Er muss in die Rechnung einfliessen, sonst ist es einfach nicht ehrlich. Diese Leute benötigen Ärzte, Schulen, Strassen, Züge. Ich bleibe dabei: Mehr Zuwanderung bedeutet weniger Wohlstand. Sonst hätten wir keinen Fachkräftemangel.

Persönlich: Marco Chiesa

Im August 2020 wurde der Tessiner Marco Chiesa (48) zum SVP-Chef gewählt. Sein politischer Werdegang begann in Lugano TI, führte ihn 2007 in den Tessiner Grossrat und 2015 in den Nationalrat. Vier Jahre später wurde er Ständerat. Der Betriebswirt leitete früher ein Altersheim und ist heute als Gesellschafter der Treuhand- und Beratungsfirma Ticiconsult Sagl aktiv. Chiesa lebt in Ruvigliana TI nahe Lugano, ist verheiratet und Vater zweier Kinder.

Im August 2020 wurde der Tessiner Marco Chiesa (48) zum SVP-Chef gewählt. Sein politischer Werdegang begann in Lugano TI, führte ihn 2007 in den Tessiner Grossrat und 2015 in den Nationalrat. Vier Jahre später wurde er Ständerat. Der Betriebswirt leitete früher ein Altersheim und ist heute als Gesellschafter der Treuhand- und Beratungsfirma Ticiconsult Sagl aktiv. Chiesa lebt in Ruvigliana TI nahe Lugano, ist verheiratet und Vater zweier Kinder.

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Die SVP warnt vor dem Asyl-Chaos – und tut alles, damit es dazu kommt. Schon heute fehlt es an Plätzen für Flüchtlinge. Trotzdem haben Sie, zusammen mit Mitte und FDP, den Bau von Asyl-Containern verhindert.
Das europäische Asyl-System ist gescheitert. Es kommen Hunderttausende junge Männer mit kriminellen Schleppern nach Europa. Und jetzt sollen die Schweizer 130 Millionen bezahlen, um Unterkünfte für Flüchtlinge zu bauen? Nein, danke!

Die europäischen Probleme bei der Verteilung der Flüchtlinge ändern nichts daran, dass die Leute da sind und eine Unterkunft brauchen.
Wir hatten immer gesagt, wir müssen unsere Grenzen selber kontrollieren. Doch der Bevölkerung wurde eingeredet, dies sei nicht nötig: Die EU werde ihre Aussengrenzen schützen, damit sei auch die Schweiz geschützt. Jetzt sehen wir: Das stimmt nicht.

Was schlagen Sie denn vor?
Grossbritannien hat ein Abkommen, um illegal eingereiste Asylsuchende nach Ruanda abzuschieben. Das sollte die Schweiz auch tun.

Die reiche Schweiz soll sich also von ihrer Verantwortung freikaufen und die Geflüchteten nach Afrika abschieben.
Es ist im Gegenteil verantwortungslos, wenn wir weitermachen wie bisher. Damit füttern wir die kriminellen Menschenhändler und nehmen den Tod von Asylmigranten in Kauf.

Bisher hat sich die SVP nicht um das Schicksal der Flüchtlinge gekümmert. Sie sind auch gegen mehr Hilfe vor Ort.
Wir geben jedes Jahr drei Milliarden Franken für die Entwicklungshilfe aus und vier Milliarden für den Asylbereich. Das ist mehr Geld, als wir für die Landwirtschaft ausgeben, nämlich 3,7 Milliarden. Das sind die falschen Prioritäten. Und es herrscht ein Asyltourismus: Diese Leute suchen nicht Schutz, sondern das Land mit den besten Sozialleistungen. Sie durchqueren viele sichere Länder, um in die Schweiz zu kommen.

Neben der Migration macht die SVP auch das Gendersternchen zum Wahlkampfthema. Was stört Sie denn so an diesem einen Zeichen?
Diese Genderdebatte ist ein importiertes Thema. Tatsache ist aber: Viele Bürger haben das Gefühl, sie können nicht mehr sagen, was sie denken.

Die SVP ist die grösste Partei im Land – ihre Vertreter haben noch immer gesagt, was sie denken.
Es gibt Männer und Frauen, das ist eine biologische Tatsache. Eine Mikrominderheit behauptet das Gegenteil. Einen Gendertag durchzuführen, wenn 25 Prozent der Schüler nicht richtig lesen können, ist die falsche Priorität.

Auf Minderheiten Rücksicht zu nehmen, ist doch eigentlich sehr schweizerisch.
Heute will die Minderheit der Mehrheit befehlen, wie sie reden soll.

Niemand befiehlt der SVP, den Genderstern zu benutzen.
Doch! In der Stadt Zürich hat die Verwaltung den Genderstern auf offiziellen Dokumenten eingeführt. Ich bin froh, hat SVP-Gemeinderätin Susanne Brunner dagegen eine Initiative eingereicht.

Laut Umfragen dürfte die SVP bei den Wahlen im Herbst zulegen. Falls es so kommt: Bleiben Sie Parteipräsident?
Schön, wenn die Umfragen das so vorhersagen. Ich habe Freude am Amt, wir haben eine gute Mannschaft. Was nach den Wahlen ist, werden wir sehen.

Wie stehen Sie zu einem Grünen-Bundesrat: Würde die SVP eine Grünen-Kandidatin wählen?
Wir stehen zur Konkordanz. Die vier grössten Parteien sollen gemäss ihrer Wählerstärke im Bundesrat vertreten sein. Die Grünen respektieren das nicht. Ich sehe nicht wirklich einen Grund, diese Missachtung mit einem Bundesratssitz zu belohnen.

Themenwechsel: Wie oft fahren Sie im Jahr durch den Gotthardtunnel?
Sehr, sehr oft. An mindestens 200 Tagen im Jahr bin ich in der Deutschschweiz oder in der Romandie.

Eine Maut käme Sie teuer zu stehen.
Ich benutze den Zug. Aber der Stau vor dem Gotthardtunnel ist ja nichts Neues. Der Vorstoss von Mitte, GLP und FDP verlangt, dass alle bezahlen sollen. Auch die Schweizerinnen und Schweizer. Damit bin ich nicht einverstanden.

Warum?
Schweizer bezahlen bereits die Verkehrsabgaben, das Autokennzeichen und die Vignette. Deutsche oder Holländer, die ans Mittelmeer fahren, benötigen lediglich die Vignette für 40 Franken. Wenn Sie nur schon von Lugano nach Genua fahren, kostet das mehr.

Die meisten, die am Karfreitag vor dem Gotthard stehen, sind aber Schweizer.
Genau – Schweizer, die bereits für die Infrastruktur aufgekommen sind. Weshalb sollten sie den Tunnel jetzt nicht frei benutzen dürfen?

Es kommen also zu viele, und es kommen die Falschen?
(Lacht) Auch hier.

Und noch ein Themenwechsel: Der Krieg in der Ukraine dauert an. Dennoch wehren Sie sich dagegen, dass Länder wie Deutschland Schweizer Waffen an die Ukraine liefern. Damit helfen Sie einzig dem Aggressor Russland.
Überhaupt nicht! Wir können als neutrales Land unsere guten Dienste anbieten und humanitäre Hilfe leisten. Aber wenn wir solche Waffenlieferungen zulassen, nehmen wir für eine Kriegspartei Stellung. Das ist mit der Neutralität nicht vereinbar.

Es geht ja nicht nur um die Wiederausfuhr von Waffen. Die SVP will nicht einmal die ausgedienten Leo-Panzer an Deutschland liefern.
Diese Panzer brauchen wir in der Schweiz. Dazu kommt: Jene Kreise, die jetzt unbedingt das Kriegsmaterialgesetz lockern wollen, sind dieselben, die es vor zwei Jahren verschärft hatten. Diese Leute verhalten sich komplett unglaubwürdig.

Vor zwei Jahren war die Welt eine andere.
Aber unsere Werte bleiben dieselben.

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