Cassis will humanitäre Soforthilfe um zwei Millionen erhöhen
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Besuch in Moldawien:Cassis will humanitäre Hilfe um zwei Millionen erhöhen

Cassis nach seiner Reise nach Polen und Moldawien
«Was machen wir mit diesem sinnlosen Krieg?»

Mit einem Waffenstillstand in der Ukraine ist so bald nicht zu rechnen, sagt Ignazio Cassis nach seinem Besuch in Polen und Moldawien. Der Bundespräsident spricht auch über die emotionalen Momente in den Flüchtlingszentren an der ukrainischen Grenze.
Publiziert: 23.03.2022 um 00:14 Uhr
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Aktualisiert: 23.03.2022 um 11:05 Uhr
Interview: Adrien Schnarrenberger

Fast einen Monat ist es her, seit Russland mit seiner Invasion in die Ukraine einen Krieg mitten in Europa angezettelt hat. Bundespräsident Ignazio Cassis (60) ist nach Polen und Moldawien gereist, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Blick hat den Aussenminister auf seiner Reise begleitet.

Ignazio Cassis besucht ukrainisch-polnische Grenze
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Toblerone für die Kleinen:Ignazio Cassis besucht ukrainisch-polnische Grenze

Herr Cassis, Ihre Reise wurde in letzter Minute organisiert. Warum war Ihnen der Besuch so wichtig?
Ignazio Cassis: Ich wollte mir unbedingt ein Bild von der Situation vor Ort machen. Man bekommt Informationen und sieht Bilder im Fernsehen, aber das ist nicht dasselbe. Es ist auch wichtig für meine Mitarbeitenden, dass der Chef persönlich da ist. Ohne sie könnte ich die Lage nicht beurteilen. Zudem wollte ich mir auch ein Bild von der humanitären Hilfe der Schweiz im Einsatz machen.

Ignazio Cassis zu Besuch in Polen.
Foto: keystone-sda.ch
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Der Besuch im Flüchtlingslager in Polen hat Sie sehr bewegt. Kam das überraschend?
Es war ein sehr emotionaler Moment für alle. Ich habe mit Flüchtlingen gesprochen, die zunächst ganz normal über ihre Geschichte sprachen. Als ich weiter nachfragte, sind sie in Tränen ausgebrochen. Das war für mich sehr bewegend. Das ist auch ein Grund, warum ich unbedingt kommen wollte: Ich interessiere mich für Menschen. Auch deshalb bin ich Arzt geworden.

Ignazio Cassis besucht ukrainisch-polnische Grenze
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Toblerone für die Kleinen:Ignazio Cassis besucht ukrainisch-polnische Grenze

Sie haben unter anderem Auffang- und Pflegezentren für Kinder besucht. Haben Sie durch Ihre medizinische Ausbildung eine besondere Perspektive?
Nein. Ich bin als Politiker entsetzt über den Weg, der hier eingeschlagen wurde. Ich frage mich: Was machen wir mit diesem sinnlosen Krieg? Es gibt so viel Not und Leid.

Es waren zwei intensive Tage. Sind Sie zufrieden?
Die Ziele wurden erreicht. Mit beiden Regierungen habe ich versucht, ihre konkrete geopolitische Lage zu verstehen. Der direkte Austausch hilft auch, zu verstehen, wie wir Hilfe leisten können.

Die moldawische Präsidentin Maia Sandu hat offen darüber gesprochen, dass sie sich um die Zukunft Moldawiens ebenfalls Sorgen macht. Hat Sie das überrascht?
Ich hatte bereits zu Beginn der russischen Invasion mit ihr telefoniert, und sie war sehr besorgt. Dasselbe gilt für Polen, das in diesem Jahr den Vorsitz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) innehat. Wir sprachen über die Truppenbewegungen in Russland, und ich hatte ihnen unseren Aktionsplan zur Stärkung der OSZE dargelegt. Wir sind alle sehr besorgt.

SVP-Aussenpolitiker Franz Grüter sagte, er habe vor der Reise auf einen baldigen Waffenstillstand gehofft – und kehre mit dem Eindruck zurück, dass sich so bald nichts ändern wird. Geht es Ihnen auch so?
So sehr ein Waffenstillstand meine Priorität ist, bin ich doch nicht naiv: Kurzfristig dürfte das nicht möglich sein, selbst wenn man alle möglichen Allianzen sucht. Um einen Ausweg aus diesem Konflikt zu finden, muss man bereit sein, sich in die Lage der Gegenseite hineinzuversetzen.

Wie könnte ein solcher Ausweg aussehen?
Das muss gemeinsam mit der Ukraine ausgehandelt werden – und das wird ein sehr technischer und komplizierter Prozess. Denn dieser Konflikt hat eine lange Geschichte, die wir oft zu wenig berücksichtigen und zu wenig kennen. Es gibt sehr viele Parameter in dieser Gleichung.

Sprechen wir über die Flüchtlinge. Moldawien hat bereits mehr als 300'000 Menschen aufgenommen und selbst nur knapp über zwei Millionen Einwohner. Sollten wir die Hilfe vor Ort verstärken oder einen Verteilungsschlüssel für den gesamten Kontinent festlegen?
Ich habe keine endgültige Antwort auf diese Frage. Das Risiko besteht, dass beides Realität wird. Die Europäische Union und die Länder des Schengen-Raums haben sich natürlich bereits Gedanken gemacht. Wenn die Zahl der Flüchtlinge weiterhin stark ansteigt, kann man die Menschen dann weiterhin frei entscheiden lassen, wo sie sich niederlassen wollen? Wir könnten dann mit logistischen Herausforderungen konfrontiert werden. Es finden daher bereits Gespräche zwischen den jeweiligen Innen- und Justizministern statt.

Die Sanktionen gegen russische Oligarchen wurden sowohl in Polen als auch in Moldawien begrüsst. Sind sie Ihrer Meinung nach erfolgreich?
Dafür spricht zumindest einiges: Die Kaufkraft in Russland ist gesunken, die Inflation ist enorm. Das ist genau das, was die internationale Gemeinschaft mit dieser Reaktion bezweckt hat. In der Schweiz sehen wir, dass einige Unternehmen aufgrund ihrer direkten Verbindungen zu Russland bereits Konkurs angemeldet haben. Das zeigt ebenfalls, dass die Sanktionen funktionieren. Wir sind übrigens führend bei den Sanktionen in Bezug auf Kryptowährungen.

Ihr Auftritt auf dem Bundesplatz an der Seite vom per Video zugeschalteten Wolodimir Selenski hat in der Schweizer Politik für Aufregung gesorgt. Hat Sie das überrascht?
Uns war sehr bewusst, dass diese Aktion nicht allen gefallen wird. Es war das erste Mal, dass die Schweiz sozusagen an einem virtuellen Staatsbesuch beteiligt war. Wir haben am Vorabend bis in die frühen Morgenstunden die Vor- und Nachteile diskutiert.

Und was hat am Schluss den Ausschlag gegeben?
Meine Entscheidung. Man kann stundenlang darüber reden, aber am Ende habe ich die Entscheidung getroffen.

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