«Menschheit hat Pandemien immer besiegt»
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Ignazio Cassis im Gespräch:«Menschheit hat Pandemien immer besiegt»

Bundespräsident Ignazio Cassis zur Belegung der Intensivstationen
«Die Lage ist noch zu managen»

«Ich sehe zu viel Streit und zu viel Intoleranz gegenüber Andersdenkenden», warnt der FDP-Magistrat. Mediziner Cassis rechnet mit einer Ausbreitung des Omikron-Virus, bis dieses die anderen Varianten verdrängt habe.
Publiziert: 02.01.2022 um 01:42 Uhr
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Aktualisiert: 02.01.2022 um 13:29 Uhr
Christian Dorer und Simon Marti (Interview), Stefan Bohrer (Fotos)

Der neue Bundespräsident Ignazio Cassis verbrachte die Altjahrswoche im Tessin – bis auf einen Tag: Da reiste er nach Bern für die Aufzeichnung seiner Neujahrsansprache in allen vier Landessprachen. Und für das Interview mit SonntagsBlick. Es findet in seinem Sitzungszimmer im Bundeshaus West statt. Er hat es unlängst neu schmücken lassen, der Auftrag an die Kunstzuständige des Bundes lautete: Farbe!

Herr Bundespräsident, Weihnachten ist vorbei, das neue Jahr hat begonnen. Wie haben Sie die Festtage verbracht?
Ignazio Cassis: Weihnachten haben meine Familie und ich in Sessa bei meiner Mutter gefeiert. Ganz traditionell, mit vielen Gesprächen und zu viel zu essen und zu trinken. Silvester blieben meine Frau und ich aufgrund der angespannten Corona-Situation zu Hause.

Sie übernehmen den Vorsitz der Landesregierung mitten in einer historischen Krise. Mit welchem Anspruch treten Sie das Amt an?
Mein Anspruch an mich ist, bis Ende des Jahres engagiert und gesund zu bleiben. Die Sitzungen des Bundesrats gut zu leiten, das klingt erst einmal banal. In Tat und Wahrheit ist es eine schwierige Aufgabe. Die Gruppendynamik spiegelt die unterschiedlichen Mentalitäten und politischen Ansprüche.

Bundespräsident Ignazio Cassis wirbt für Respekt. «Auch gegenüber den Ungeimpften», wie der Mediziner betont. Die Schweiz beruhe auf Toleranz und Vielfalt. «Und wenn wir diese Vielfalt nicht mehr als Reichtum, sondern als Bedrohung wahrnehmen, haben wir ein Problem mit unserer politischen Kultur.»
Foto: STEFAN BOHRER
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Und Ihr Anspruch an den Bundesrat?
Das Gremium darf nicht coronamüde werden. Wir erleben auch eine Krise der Nerven, das gilt für die politischen Organe genauso wie für die Bevölkerung. Auch im Parlament spüre ich diese Anspannung.

Auch im Bundesrat?
Wir müssen aufpassen, dass das Gremium nicht zu sehr strapaziert wird mit Problemen, die auch die Verwaltung lösen kann. Der Bundesrat muss fit bleiben, um sich den strategischen Aufgaben zuzuwenden.

Wie oft sind Sie in diesen Tagen mit den Bundesrätinnen und Bundesräten in Kontakt?
So oft wie nötig. Wir verfolgen die Lage ganz genau und sind jederzeit bereit, eine Sitzung anzusetzen, ob nun physisch oder virtuell. So hat sich der Bundesrat zum Beispiel an Silvester an einer Telefonkonferenz über die aktuelle Lage informieren lassen.

Mit Ihnen ist jetzt ein Mediziner Bundespräsident. Werden Sie die Aufgabe anders angehen als Ihre Vorgänger?
Ich habe andere Sensibilitäten, aber die Führung des Landes erfolgt unabhängig vom beruflichen Hintergrund des Bundespräsidenten. Er hat keine Macht, um den Kurs alleine zu bestimmen. Aber was stimmt: Ein naturwissenschaftliches Gehirn tickt wohl anders als zum Beispiel das Gehirn eines Anwalts oder einer Betriebswirtschafterin.

Wie zeigt sich das?
Meine Mitarbeiter sagen, mein Gehirn funktioniere wie das Programm Excel und nicht wie Word. Ich stütze mich gerne auf Fakten und Beweise, brauche Verknüpfungen und Daten. Ich bin Arzt und kann mit Behauptungen und Vermutungen wenig anfangen, auch wenn sie zur Politik gehören.

Dann testen wir die Excel-Tabelle: Die Omikron-Variante ist hoch ansteckend, die Schweiz steuert auf 20'000 Ansteckungen pro Tag zu. Was erwarten Sie in den kommenden Wochen?
Eine weitere Verbreitung des Omikron-Virus, bis es die anderen Varianten verdrängt hat. Andere Länder haben diese Entwicklung bereits durchgemacht. Die Geschichte der Medizin zeigt: Epidemien erscheinen und verschwinden am Ende meist mit hoch infektiösen Viren, die aber zu milderen Erkrankungen führen. Biologisch gesehen ist es so, dass die Viren ja nicht die Menschen töten wollen, von denen sie sich ernähren. Das wäre sonst auch ihr Tod.

Also ein guter Verlauf?
Wir müssen aufpassen. Oberstes Ziel ist es, die Spitalinfrastruktur nicht zu überlasten und die Mortalität tief zu halten. Dazu müssen wir noch mehr impfen und boostern. Wenn aber eine klinisch schwache Variante eines Virus kommt und sich verbreitet, ist das aus medizinischer Perspektive tatsächlich nichts Schlechtes.

Das tönt mittelfristig positiv. Aber was ist kurzfristig? Anfang Woche warnte der Kanton Luzern, dass die Triage absehbar sei, also der Entscheid, wer noch ein Intensivbett bekommt. Das klingt nicht nach Entspannung, und doch verzichtet der Bundesrat auf weitere Massnahmen.
Kurzfristig müssen wir eine Überlastung der Intensivstationen verhindern. Stand heute ist die schweizweite Belegung der Intensivstationen mit circa 80 Prozent – die Hälfte davon Corona-Patienten – noch zu managen. Das kann sich aufgrund der raschen Ausbreitung aber rasch ändern.

Aber eine Belegung von 80 Prozent ist doch nicht wenig. Da bleibt doch kaum Spielraum.
80 Prozent ist eine gewöhnliche Belegung. Nimmt sie zu, muss man diese Betten für die schwereren Fälle reservieren. Die Schwierigkeit der Triage erleben Mediziner auf Intensivstationen jeden Tag.

Das hilft den Patienten mit schweren Verläufen wenig.
Verstehen Sie mich recht, das tut weh, dass trotz der Impfmöglichkeit so viele Patienten ein Spitalbett benötigen. Die allermeisten Fälle wären ja auch zu verhindern, denn es handelt sich dabei fast immer um ungeimpfte Personen. Immerhin ist es heute so, dass die wenigsten sterben, die meisten kehren gesund nach Hause zurück. Aber für die Gesellschaft – und insbesondere für das medizinische Personal – ist diese Situation eine grosse Belastung.

Also könnten mit mehr Intensivbetten gar nicht mehr Menschen gerettet werden?
Wir können in der Schweiz die Kapazitäten steigern, sollte dies nötig werden. Im Moment ist das aber nicht der Fall. Lokale Engpässe wie in Luzern oder anderen Orten kann es geben, doch hier kommt die interkantonale Solidarität zum Tragen, wie in der ersten Welle. Und wir sind jederzeit bereit, auch mit Bundesmitteln wie dem Zivilschutz oder der Armee darauf zu reagieren.

Müsste im schlimmsten Fall der Impfstatus berücksichtigt werden bei der Verteilung von Intensivplätzen?
Wir sind heute nicht so weit, und ich glaube nicht, dass wir an diesen Punkt kommen werden. Die Impfquote steigt, wenn auch leider nur langsam.

Die vergangenen Monate haben in der politischen Auseinandersetzung zu einer Verhärtung geführt. Wie haben Sie den rauer werdenden Umgang erlebt?
Ich bin besorgt um den Zusammenhalt der Schweiz. Ich sehe zu viel Streit und zu viel Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Das ist Ausdruck einer zunehmenden Polarisierung. Wir sind uns das nicht gewohnt, die Schweiz beruht auf Toleranz und Vielfalt. Und wenn wir diese Vielfalt nicht mehr als Reichtum, sondern als Bedrohung wahrnehmen, haben wir ein Problem in unserer politischen Kultur. Auch deswegen wird die Vielfalt ein zentrales Anliegen meines Präsidialjahres.

Welche Erfahrungen machen Sie persönlich ?
Die Zahlen zeigen, dass Drohungen und Anfeindungen stark zugenommen haben. Das betrifft auch uns Bundesräte. Deshalb wurden die Schutzmassnahmen verstärkt. Eine wirkliche Gefahr habe ich aber zum Glück noch nie verspürt. Man merkt, es gibt Leute, die einen nicht mögen, die sich lustig machen. Wenn man früher dachte, der Bundespräsident oder ein Magistrat sei ein Löli, hat man ihm das nicht ins Gesicht gesagt. Heute fühlen sich manche dazu legitimiert. Besonders in den sozialen Medien fliesst das Gift.

Ist das eine Folge der Pandemie?
Das hat mit Corona zu tun, aber nicht nur. Der Hintergrund ist ein Epochenwechsel. Wir leben in einem Übergang hin zu einer neuen Ära: künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Industrie 4.0. Das macht vielen Leuten Angst. Und dann kommt noch eine Pandemie hinzu. Da verlieren manche den Kompass.

Was kann man dagegen tun?
Respekt haben und zuhören. Auch den Ungeimpften. Sonst können diese Menschen sich nicht in ihrer Meinung bewegen. Drohungen wie ein Impfobligatorium helfen da im Moment nicht. Nur darf man ihnen auch nicht zu verstehen geben, dass nur ihre Freiheit alleine zählt. Meine Freiheit hört dort auf, wo Ihre beginnt. Das haben wir über Generationen vererbt. Plötzlich ist dieses Gefühl fragil.

Ist der Blick eines Tessiners auf Fragen der Vielfalt ein schärferer als derjenige eines Deutschschweizers?
Bei solchen Vergleichen bin ich sehr vorsichtig. Mein Blick ist ein anderer, sicher. Und darauf bin ich stolz.

24 Jahre ist es her, dass mit Flavio Cotti zuletzt ein Tessiner Bundespräsident war.
Das ist eine Generation. Eine Generation, die sich immer fremder fühlte im eigenen Land und deshalb heute besonders stolz ist, dass wieder ein Vertreter aus der italienischen Sprachgemeinschaft Bundespräsident ist.

Was werden Ihre Akzente sein?
Um der Vielfalt mehr Gewicht zu geben, möchte ich zwei Sitzungen des Bundesrats extra muros und zwar in Genf und im Val Müstair, ganz im Westen und ganz im Osten abhalten. Weiter möchte ich Minderheitssprachen fördern, zum Beispiel durch die Weiterführung der rätoromanischen Woche und die Unterstützung der italienischen Woche. Diplomatische Besuche sollen zudem nicht nur in Bern oder Genf stattfinden, sondern auch in kleineren Städten im ganzen Land, wo die Aussenpolitik wenig präsent ist.

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Ist das Bundespräsidium für Sie auch eine Plattform für die Erneuerungswahlen 2023?
Das spielt für mich keine Rolle. Ich will mein Amt gut ausüben und dabei auch Freude haben. Parteipolitische Kalküle und Rankings sind mir weniger wichtig.

Aber Sie treten 2023 nochmals an?
Darüber zu sprechen, ist verfrüht. Die Pandemie hat gezeigt, wie volatil vieles ist. Zwei Jahre sind da sehr weit weg.

Ihre Freude ist aber noch da?
Sehr sogar!

Wobei das Europa-Dossier keine Freude bereitet. EU-Kommissar Sefkovic hat der Schweiz ein Ultimatum gestellt, bis zum Treffen am WEF einen Fahrplan vorzulegen, wie die offenen Fragen angepackt werden sollen. Verschiebt sich dieses Ultimatum zusammen mit dem WEF auf den Frühsommer?
Es gibt kein Ultimatum. Die Schweiz funktioniert nicht so.

Aber offenbar die EU. Diese Woche hat Sefcovic erklärt, dass Brüssel dringend wissen müsse, ob die Schweiz ernsthaft verhandeln wolle.
Es ist nicht unsere Aufgabe, der EU zu sagen, wie sie kommunizieren soll. Dass die EU klare Forderungen hat, ist seit fünfzehn Jahren bekannt. Vor sieben Jahren begann die Schweiz, diesen Forderungen mit einem institutionellen Rahmenabkommen entgegenzukommen. Bis der Bundesrat im Mai einsehen musste, dass dieser Weg innenpolitisch ein zu grosser Schritt war. Jetzt wird ein neuer Weg gesucht.

Wie könnte der aussehen?
Wir wollen der EU entgegenkommen, werden aber nicht alle Forderungen erfüllen. Wir sind ja nicht Mitglied der EU. Aber wie die EU haben auch wir ein Interesse an guten gegenseitigen Beziehungen.

Fühlen Sie sich vom Bundesrat alleingelassen, weil alle froh sind, dass Sie sich mit dieser heissen Kartoffel herumschlagen müssen?
Jedes Departement hat seine Herausforderungen. Dieses Dossier ist seit Jahren schwierig, was mit ein Grund für den Rücktritt meines Vorgängers war. Das Thema der Beziehungen mit unseren Nachbarn hat uns seit dem Anbeginn der Schweiz begleitet und wird uns immer begleiten. Wir haben immer Wege gefunden in unserem Verhältnis mit Europa. Wie bei der Pandemie sollten wir nicht in Panik verfallen, sondern uns mit Ruhe und Selbstbewusstsein der Situation annehmen.

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