Darum rufen diese Ukraine-Flüchtenden jetzt nach Hilfe
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Betroffene erzählen:Darum rufen diese Ukraine-Flüchtenden jetzt nach Hilfe

Arm, alleingelassen, überfordert – ukrainische Flüchtlinge wenden sich an Behörden
«Wir brauchen Hilfe!»

Mit einem verzweifelten Brief wenden sich über 100 ukrainische Flüchtlinge an den Kanton Bern. Sie äussern happige Vorwürfe an die Adresse der Asylfirma ORS. Jetzt wird der Kanton aktiv.
Publiziert: 27.06.2022 um 01:26 Uhr
|
Aktualisiert: 09.06.2023 um 11:30 Uhr
Lea Hartmann

Frust und Hilflosigkeit stehen den ukrainischen Flüchtlingen in Burgdorf BE ins Gesicht geschrieben. Vor kurzem noch hatten sie gute Jobs, ein Zuhause, Familie und Freunde um sich. Nun führen die Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz ein Leben am Existenzminimum. Einer Bürokratie ausgeliefert, die sie nicht verstehen.

Hauptverantwortlich für den Unmut der Flüchtlinge ist die Firma ORS, die im Oberaargau und Emmental für die Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge zuständig ist – wie in vielen weiteren Regionen und Gemeinden. Das Unternehmen ist der grösste private Player im Schweizer Asylwesen und betreibt Dutzende Asylunterkünfte. Es steht seit Jahren in der Kritik – auch jetzt wieder.

«Es ist ein Albtraum»

«Es ist ein Albtraum», sagt Irina Rad (59). Zwei Wochen lang sei sie täglich zum Büro der Asylfirma gegangen. Jeden Tag habe sie versucht, Antworten auf die vielen Fragen zu erhalten, die sie und ihre Landsleute plagen. Doch noch immer türmen sich Fragezeichen in ihren Köpfen.

Oksana Bolhova (50) und rund 80 weitere ukrainische Flüchtlinge haben sich mit einem Brief an die Behörden gewandt.
Foto: Philippe Rossier
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Rad lebt gemeinsam mit rund 300 weiteren ukrainischen Flüchtlingen in einer abbruchreifen Siedlung am Burgdorfer Stadtrand, die zur Kollektivunterkunft umfunktioniert worden ist. Die Bauprofile einer neuen Überbauung, für die hier bald der Grundstein gelegt werden soll, stehen bereits.

Flüchtlinge fühlen sich alleingelassen

Auch Oksana Bolhova (50) und ihr Ehemann wohnen seit einigen Monaten hier in einer kleinen, heruntergekommenen Dreizimmerwohnung im Hochparterre – gemeinsam mit vier weiteren Ukrainern. «Wir brauchen Hilfe!», sagt die Anwältin aus Charkiw im Osten der Ukraine.

In einem Brief, der Blick vorliegt, wenden sich die Flüchtlinge aus Burgdorf und Umgebung nun in ihrer Verzweiflung an die Behörden. Unterzeichnet haben das Schreiben, das an den verantwortlichen Berner Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (59), den Burgdorfer Stadtpräsidenten Stefan Berger (53) und die ORS-Leitung adressiert ist, über 100 Flüchtlinge.

«In fast drei Monaten hat der Sozialarbeiter uns nur einmal empfangen», halten die Ukrainerinnen und Ukrainer darin beispielsweise fest. Ein Vater bitte seit Ende Mai um Geld für seinen nierenkranken Sohn, um diesem Lebensmittel zu kaufen – bisher ohne Antwort. Die sechsfache Mutter Nataliia Sobchuk (34) erzählt, dass sie seit eineinhalb Monaten auf grünes Licht für eine Zahnarztbehandlung ihrer Tochter (10) wartet: «Sie sagen uns, sie soll einfach Schmerzmittel nehmen.»

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Warten auf den Lohn

Oksana Bolhova und ihr Ehemann Robirto warten ebenfalls. Er hat inzwischen temporär Arbeit gefunden, als Allrounder bei einem Getränkelieferanten. Von den 2740 Franken, die er im Mai verdiente, erhält er gerade einmal 414.35 Franken ausbezahlt. So sieht es das Berner Gesetz für Asylsozialhilfe-Bezüger vor. Das ist erschreckend wenig, wenn auch noch immer etwas mehr als die höchstens 382 Franken Sozialhilfe pro Monat, mit denen die Flüchtlinge in Burgdorf auskommen müssen. Inzwischen ist aber bald Juli und Robirto hat noch keinen Franken Lohn ausbezahlt bekommen.

Die Flüchtlinge erzählen Blick zahlreiche weitere, ähnlich gelagerte Geschichten. Im Brief schreiben sie: «Auf all unsere Fragen hat ORS nur eine Antwort: ‹Wir wissen es nicht, warten Sie.› Wir warten wochen- und monatelang.» Nun sind die Ukrainer mit ihrer Geduld am Ende.

Hier finden Ukrainer Hilfe

Wie finde ich Arbeit? Was, wenn ich zur Ärztin muss? Und wie funktioniert in der Schweiz der ÖV? Antworten auf solche und ähnliche Fragen erhalten Flüchtlinge aus der Ukraine im Blick-TV-Format «Olha erklärt die Schweiz». Die Ukrainerin Olha Petriv erklärt in kurzen Videos auf Ukrainisch, wie der Alltag in der Schweiz funktioniert. Viele Informationen und praktische Tipps hat zudem auch der «Beobachter» gesammelt – ebenfalls auf Ukrainisch.

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Verzögerungen

Von Blick mit den Kritikpunkten konfrontiert, verteidigt sich die Asylfirma. «Flüchtlinge, die von ORS betreut werden, können sich jederzeit an ORS-Personal wenden und erhalten dann auch Informationen», teilt das Unternehmen mit. Man habe zudem mit Informationsschreiben «immer wieder und stetig informiert». Die Ukrainerin Bolhova sagt indes, diese Aushänge, auf welche sich die Asylfirma bezieht, seien erstens selten und würden zweitens sehr viele ihrer Fragen nicht beantworten.

Bei Informationen über Lohn- und Sozialhilfezahlungen bemühe man sich sehr um eine «zeitgerechte Information» und Erklärung, teilt ORS weiter mit. Angesichts «der grossen Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine» könne es hier aber «zu Verzögerungen kommen».

ORS redet sich heraus

Im Fall von Bolhovas Mann, der wochenlang auf den Anteil seines Lohnes wartet, redet sich das Unternehmen raus. Den Grundbedarf habe man «fristgerecht» ausbezahlt, teilt es mit. Daran gibt es keinen Zweifel, doch sind es eben nur knapp zwei Drittel dessen, was dem Ehepaar zusteht.

Die Auszahlung des Lohnanteils, auf den sie ebenfalls Anspruch haben, erfolgt laut ORS «in der Regel etwas zeitversetzt», weil man auf die Lohnabrechnung warten und das Sozialhilfebudget neu berechnen müsse. Eine Fachperson, mit der Blick gesprochen hat, bezeichnet eine so lange Wartefrist allerdings als «bizarr».

Was die lange Wartezeit auf einen Zahnarzttermin betrifft, schiebt ORS die Verantwortung schliesslich von sich. Medizinische Fälle würden an die zuständigen Stellen weitergeleitet, teilt ORS mit. Diese würden entscheiden, wie dringend die Behandlung sei.

Kanton reagiert

Die Gesundheits- und Sozialdirektion des Kantons Bern wird nun aktiv. Zu den konkreten Kritikpunkten will sich der Kanton zwar derzeit nicht äussern. Regierungsrat Schnegg werde den Brief der Flüchtlinge beantworten, dem wolle und könne man nicht vorgreifen, sagt sein Sprecher Gundekar Giebel. Bis jetzt habe man das Schreiben lediglich vorab per E-Mail erhalten, noch warte man auf die Unterschriftenliste.

Er betont, man müsse sich immer bewusst sein, in welcher Ausnahmesituation sich die Behörden derzeit befänden. Nach Bern seien seit März so viele Flüchtlinge gekommen wie sonst in drei oder vier Jahren. Zudem hätten die Ukrainerinnen und Ukrainer aufgrund dessen, wie die Dinge in ihrer Heimat organisiert seien, höhere Erwartungen an den Staat als andere Flüchtlinge.

Schneggs Direktion kündigt aber an, dass man mit ORS das Gespräch suchen werde. «Wir klären ganz generell bei jeder Reklamation ab, was an den Vorwürfen dran ist. Das werden wir auch im vorliegenden Fall tun», so Giebel.

Viel Kritik, aber auch grosse Dankbarkeit

Die Flüchtlinge sind sich bewusst, dass ihre Kritik auch in den falschen Hals geraten kann. Dass man ihnen vorwerfen kann, sie seien undankbar für die Hilfe, die sie in der Schweiz bekommen.

Im Gespräch mit Blick beteuern sie immer und immer wieder, dass das nicht der Fall sei – trotz der Probleme, die sie schildern. «Schreiben Sie das bitte auf, in Grossbuchstaben», sagt Irina Rad: «WIR SIND DER SCHWEIZ UND IHRER BEVÖLKERUNG SEHR DANKBAR.»

ORS sorgt immer wieder für Kritik

Im Asylwesen kommt man um die ORS Service AG nicht herum: Der Bund, aber auch etliche Kantone und Gemeinden lagern Betreuungsaufgaben an das private Unternehmen mit Sitz in Zürich aus.

Der Asylriese kämpft immer wieder mit Negativschlagzeilen. Umstritten etwa ist die Führung der Rückkehrzentren im Kanton Bern, welche die Gegner gerne «Zermürbungslager» nennen. Zuletzt hatte sogar die nationale Kommission zur Verhütung von Folter die Zustände kritisiert, die für Familien menschenunwürdig seien.

Mehrfach sorgten aber auch schlechte Hygienebedingungen in Asylunterkünften für Aufsehen. Während der Pandemie standen besonders die Zürcher Unterkünfte wegen mangelnder Corona-Schutzmassnahmen in der Kritik. Letzteres gipfelte in einer Strafanzeige gegen ORS-Mitarbeitende und Sicherheitsdirektor Mario Fehr (63), die allerdings folgenlos blieb.

Umstritten ist die ORS aber auch, weil sie gewinnorientiert ist: Kritiker argumentieren, damit habe sie ohnehin andere Prioritäten, als Asylsuchende aus humanitärer Sicht bestmöglich zu betreuen.

Im Asylwesen kommt man um die ORS Service AG nicht herum: Der Bund, aber auch etliche Kantone und Gemeinden lagern Betreuungsaufgaben an das private Unternehmen mit Sitz in Zürich aus.

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