«Tatort»-Kritik von der «Bild»-Zeitung
Bald Mords-Quoten in Deutschland

Die Kritik zum Schweizer «Tatort: Schattenkinder» aus deutscher Sicht von «Bild»-Chefreporter Sven Kuschel.
Publiziert: 14.03.2022 um 00:43 Uhr
Sven Kuschel

Kunst liegt ja im Auge des Betrachters. Beim neuen Zürich-«Tatort: Schattenkinder» sogar im tätowierten (autsch!) Augapfel!

Dazu später mehr: Die Fern-Seh-Kritik aus dem Norden!

Beim dritten Mal wird bekanntlich etwas zur Tradition. Sie ermitteln im Einsatz: Isabelle Grandjean (gespielt von Anna Pieri Zuercher) und Tessa Ott (Carol Schuler) behaken sich in ihrer Geschichte wie ein Schweizer Uhrwerk. Allerdings laufen die Zahnräder in den Rollen (Stichwort Teamwork) zunächst noch nicht ganz rund.

«Tatort»-Experte Sven Kuschel von der deutschen «Bild»-Zeitung.
Foto: Wolf Lux
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Die eine (Grandjean), als Jura-Expertin stets überlegt, klar in der Spur. Die andere (Ott) bewegt, rebellisch, weil so viel mehr durch den Kopf der Fallanalytikerin wirbelt. Privatproblemchen, dunkle Charaktergeschichte, privater Frust, gerne mal ein Bierchen ... All das gehört auch in diese 88 Minuten «Tatort» – wie die Löcher in den Emmentaler.

Ihre Leiche: Fein säuberlich in Plastik verpackt, mysteriös mit der Tätowiernadel verziert. Auch die Augen voll mit dunkler Tinte. Psychomord? Pech beim Solo-Sex? Verschwörung oder gleich Alarm um Ausserirdische? Das hatten wir zuletzt bei den Rekordermittlern aus Münster (D). Es ging da krachend schief.

Das Geheimnisvolle in Zürich? Klappt hier ganz gut. Vielleicht wegen eines Hauchs Michael Jackson.

Wie, bitte? «Thriller», oder was? Der King of Pop frisst sich irgendwo ins Unterbewusstsein des Zuschauers. Nein, nicht wegen der blassen Leiche. Als das Wörtchen «Propofol» fällt, schwirrt Jackos Geist in den Fall. Achten Sie mal beim Zuschauen darauf, ob Ihr Hirn auch assoziiert!

Das Narkosemittel, mit dem Opfer Cosmo (gespielt von Vincent Furrer) allem Anschein nach dem Schmerz einer bitteren Kindheit entflieht, wird zum rezeptpflichtigen Nebendarsteller aus der Apotheke.

Genauso übrigens wie Elektrorasierer (zu Beginn gibts gleich drei echt geschorene Köpfe) und die Tattoo-Nadel der Objektkünstlerin Kyomi (Sarah Hostettler).

Ist dieser «Tatort» Kunst, oder kann das weg? Neugier aufs Ungesehene schafft beim Zürich-«Tatort» wie in einer echten Vernissage Appetit auf mehr. Auch dank kleiner Momente. Wie dem: Ein geteilter Glimmstängel war schon oft der Beginn ganz anderer Freundschaften. Die Ermittlerinnen nähern sich an. Mit zwei Zügen an einer Zigarette. Verschwestert im Nikotin, bevor es zum lodernden Finale auf der Mini-Insel Schönenwirt kommt.

Bester Dialog: Ott: «Wenn ich mich im Spiegel nicht mehr erkenne, befreit mich das dann von mir selbst?» Grandjean: «Wenn Sie sich im Spiegel nicht mehr erkennen, brauchen Sie eine Brille ...»

Witzig: Staatsanwältin Anita Wegenast ist genervt vom «Blick»-Kollegen Kaufmann, der schon «fünf Mal in zwei Tagen angerufen hat». Gute Arbeit, Kollegen! PS: Gibts Herrn Kaufmann wirklich?

Fazit: Wenn der «Tatort» aus Zürich sich in dieser Form weiterbewegt, drohen bald auch Mords-Quoten in Deutschland.

*Sven Kuschel ist Chefreporter bei «Bild» in Berlin und schaut für seine «Tatort»-Geschichten seit 15 Jahren alle Fälle. Manchmal schläft er dabei ein. Den Schweizer Krimi hat er ohne Kaffee durchgehalten – dabei aber eine halbe Packung Toblerone gegessen.

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