Lukas Bärfuss schreibt über Politik als Showbühne
Was bleibt nach dem Ende der Show?

Die letzten vier Jahre glichen einer TV-Serie. Fortlaufend verlangte sie unsere Aufmerksamkeit. Die Informations-Highways sind längst ausser Kontrolle. Irgendwann nimmt unser Gehirn nichts mehr auf.
Publiziert: 15.11.2020 um 16:12 Uhr
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Aktualisiert: 08.01.2021 um 17:34 Uhr
«Irgendwann müssen wir als Gesellschaft beginnen, über Informationstechnologien zu reden.»
Foto: Philippe Rossier
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Lukas Bärfuss

Es war eine grosse Show. In jeder Sekunde haben wir gelitten, in jedem Moment waren wir gefesselt, wir haben jede Wendung mitgemacht und uns an tausend Rätseln den Kopf zerbrochen. Das Gefühl der Unberechenbarkeit blieb die ganze Zeit akut. Man wusste nie, was einen noch erwarten würde, weder im Guten noch im Schlechten. Den Protagonisten war alles zuzutrauen. Das machte die letzten vier Jahre so grauenhaft unterhaltsam.

Wie viele Staffeln waren es? Egal. Jede einzelne Episode hat uns bei der Stange gehalten. Wir langweilten uns keine Sekunde. Das Problem war höchstens die Verarbeitungsgeschwindigkeit unseres Grosshirnlappens. Da kamen wir an unsere physiologischen Grenzen. Die Aufmerksamkeitsspanne nahm ab, aber das wurde teilweise aufgefangen durch die Verkürzung des Erregungspotenzials. Konzentration ist kaum mehr notwendig, jedenfalls keine, die länger als dreissig Sekunden dauert.

Das Weisse Haus und seine Schurken

Was war das Neue an dieser Geschichte? Es war jedenfalls nicht der erste Schurke, den wir im Weissen Haus gesehen haben. Man erinnert sich noch lebendig an den Präsidenten, dessen Komplizen Beweise fabrizierten, die Vereinten Nationen belogen, einen Angriffskrieg führten und danach ein Land in Schutt und Asche legten. Man hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Opfer zu zählen. Waren es hunderttausend oder eine halbe Million Menschen, die im Irak ihr Leben liessen?

Ein anderer Verbrecher im Weissen Haus liess durch die Geheimdienste die politische Opposition überwachen. Vor seinem erzwungenen Rücktritt schickte er die CIA nach Chile. Amerikanische Krieger ermöglichten den Militärputsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Das südamerikanische Land hat sich bis heute nicht von diesem Trauma erholt.

Und ein Kerl von der eher schmierigen Sorte nutzte die Aura und die Räumlichkeiten seines Amtes, um sich von einer Praktikantin im Oval Office sexuell befriedigen zu lassen. Bei diesem amerikanischen Präsidenten blieb es nicht bei Zoten und sexistischen Sprüchen. Wer heute die Aussagen, die Lügen und die heuchlerischen Rechtfertigungen aus den Neunzigerjahren liest, der begreift, wie notwendig #MeToo war, wie wichtig auch weiterhin eine Kritik der Macht und der patriarchalen Strukturen bleibt.

Nein, früher war nichts besser.

Die vergangene Präsidentschaft, die fünfundvierzigste, wird deshalb in die Geschichte eingehen, weil sie die erste war, die wir in Echtzeit verfolgen konnten. Die neuen Folgen in dieser Serie um Verrat, Hinterlist und menschliche Niedertracht waren sofort und für alle verfügbar. Hundert Millionen Abonnenten. Sie wollten bei der Stange gehalten werden. Wenn eine Tür zuging, öffnete sich im selben Augenblick die nächste.

Show ohne Inhalt

Propaganda? Die Mittel und die Formen entsprachen ihr genau, aber es war schwierig zu sagen, wozu man uns verführen wollte – ausser zu ewiger und pausenloser Aufmerksamkeit. Darin haben sich die Politik und Serien in ihren Dramaturgien angeglichen. Die Formate lernen voneinander. Konflikte dürfen unter keinen Umständen beigelegt werden. Man muss sie lebendig halten. Gleichzeitig soll man keinen Widersacher endgültig erledigen, das wäre Verschwendung. Feinde muss man pflegen, aufbauen, entwickeln. Sie erst treiben die Geschichte voran. Verbündete sind dramaturgisch nur als potenzielle Verräter interessant. Handlung? Die braucht man nur, um die Spannung aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus hat die Show keinen Inhalt, es ist ein Spektakel, das sich selbst genügt. Handlung ist sogar störend, weil sie Kohärenz erfordert.

Auch das Finale gehörte noch zum Spektakel. Es war knapp, aber am Schluss hat das Gute gesiegt. Ehrlichkeit triumphierte über die Lüge, Gemeinwohl siegte über den Egoismus. Und auch die paar Tausend Stimmen mehr oder weniger in diesem oder einem anderen County am Eriesee oder in South Hampton, an denen das Schicksal der Weltgemeinschaft hing, gehörten noch zur Show.

Und jetzt? Ist sie vorbei? Und falls ja, was kommt jetzt, was kommt danach? Was kommt nach der Müdigkeit, dem Überdruss, nach dem Ekel vor sich selbst? Man hat sich auf die einfachste Art und Weise einwickeln lassen. Die Qualität der Darbietung war häufig erbärmlich. Vulgaritäten haben gereicht, um uns zu unterhalten.

Furcht vor Zensur

Nach dem Ende des Spektakels bleibt der Tand, bleiben die Dekorationen, bleibt das flaue Gefühl im Magen, die Leere im Kopf. Das Streckbett kommt irgendwann an seine Grenze, und die Grenze ist der schwache Körper, der keine weitere Drehung erträgt. Wir steigen aus der Achterbahn, noch ist uns schwindlig, wir torkeln, und wir fragen uns, wohin wir uns jetzt wenden sollen. Wollen wir uns mit Süssigkeiten den Magen verderben? Oder gleich in die nächste Gespensterbahn einsteigen?

Es ist nicht damit zu rechnen, dass die Zahl der Tweets und der Posts und der Push Alerts abnehmen wird. Die Informationen werden nicht weniger. Und es wird sich über kurz oder lang ein neues Genie der Aufmerksamkeit finden, neue Künstler der Inszenierung werden die Politik interessant machen.

Die Informationstechnologie stellt sich nicht freiwillig in den Dienst einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung. Die Kriege um die Macht über die öffentliche Meinung werden ohne internationale Ordnung geführt. Die sozialen Medien kennen kein Redaktionsstatut. Üble Nachrede, Drohung, Beschimpfung, Nötigung – welcher Bürger hat die Kraft, sich dagegen zu wehren? Wer hat das nötige Geld? Wer findet ein Gericht, das ihn vor Lügen und Verleumdungen schützt?

Noch scheint die Öffentlichkeit nicht in der Lage zu sein, über diese Fragen zu reden und in eine Verhandlung über eine gesetzliche Regelung zu treten. Dabei wissen wir alle: Eine demokratische Ordnung funktioniert nur durch eine mediale Ordnung. Davon ist wenig zu sehen. Von den chaotischen Zuständen profitieren jene mit den wenigsten Skrupeln und mit der kleinsten Scham. Dazu gesellen sich verständliche und wichtige Abwehrreflexe des aufgeklärten Menschen, wenn es darum geht, Medien zu kontrollieren. Man fürchtet die Zensur und die staatliche Kontrolle immer noch mehr als die Verantwortungslosigkeit einzelner Autoren, Verleger oder von privaten Plattformen.

Beschleunigung führt zu Schäden

Irgendwann müssen wir als Gesellschaft beginnen, über diese Informationstechnologien zu reden. Wir kennen dieses Phänomen seit kaum zehn Jahren. Wenn es um Innovationen in Biotechnologie geht, wenn wir über den Gebrauch von Energie reden, dann setzen wir eine Ethikkommission ein, um uns zu orientieren. Gewisse Technologien wie die Genetik sind so bedrohlich, dass wir die Forschung mit einem zeitlichen Verbot, mit einem Moratorium, belegen. Und es scheint selbstverständlich zu sein, dass wir Menschen, die Automobile nutzen wollen, in einen Nothelferkurs und danach acht Stunden in einen obligatorischen Verkehrsunterricht schicken, um sie über die Gefahren und die Folgen einer unverantwortlichen Fahrweise zu unterrichten.

Auf den Informations-Highways herrscht nach wie vor Gesetzlosigkeit. Die Höchstgeschwindigkeiten der Datenautobahnen und der Endgeräte wird weiterhin ohne Zurückhaltung ausgebaut. Die fünfte Generation wird die bisherigen Kapazitäten verhundertfachen. Die Achterbahn wird hundertmal schneller, der Looping hundertmal höher. Man sollte nicht damit rechnen, dass unsere Organe diese Beschleunigung ohne Schäden ertragen werden und langsam über Gegenmassnahmen nachdenken. Wir sollten unsere Shows zivilisieren.

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