Lukas Bärfuss über die Trauer
Ein sehr politisches Gefühl

Das Gefühl der Stunde ist die Wut. Wut trennt. Eine andere Empfindung, die zur Jahreszeit Herbst passt, würde uns alle näher zusammenbringen.
Publiziert: 19.09.2020 um 17:21 Uhr
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Aktualisiert: 13.11.2020 um 22:58 Uhr
Lukas Bärfuss

Mitte September. Die schönsten Tage des Jahres. Der Himmel ist klar und leer wie ein Bergsee. Die Schatten lang, das Licht legt über alles einen goldenen Schimmer. Als wärs den ganzen Tag lang Abend. In der Dämmerung leuchtet das Violett der Hortensien tief und unwirklich. Dann fällt die Nacht plötzlich, wie ein Vorhang. Alle Hoffnung, man begreift es, war vergeblich. Der Sommer wird nicht bleiben.

Es wird jetzt kälter, und die Gespräche werden leiser. Man zündet wieder Kerzen an, und zwischen zwei Sätzen schleicht sich häufiger eine gedankenvolle Stille. Man fühlt einen Verlust, ein leises Sehnen, eine angstvolle Unruhe. Wer freut sich auf die dunkle Jahreszeit? Wer glaubt noch an seinen Vorteil? Diktatoren vielleicht und ein paar unverbesserliche Zyniker. Wer aber ein Herz hat, der fühlt es von Sorge erfüllt.

Es wünscht sich jetzt Ruhe, dieses Herz, es wünscht sich Rückzug und Geruhsamkeit. Kein Geschrei. Kein Lärm. Aber das wird ihm kaum gewährt. Die Welt ist laut wie immer. Die Wälder brennen. Die Fallzahlen steigen. In den Palästen tanzt der Wahnsinn, und in den Strassen gärt die Wut.

Im Herbst wünscht sich das Herz Ruhe, so Lukas Bärfuss, doch: «Die Welt ist laut wie immer. Die Wälder brennen. Die Fallzahlen steigen. Und in den Strassen gärt die Wut.»
Foto: Philippe Rossier
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Es dominiert die Wut

Die Wut. Das ist das Gefühl der Stunde. Sie ist überall. Die Wut regiert. Wut über die Dummheit, die Eigensucht und die Gier. Die Wut über das hohle Gerede, über den Kleingeist und über die Verlogenheit. Wut über die Ausweglosigkeit, Wut über die enttäuschten Hoffnungen, Wut über den Betrug und die eigene Ohnmacht. Wut auf alles und auf jeden.

Wut bewegt und verändert. Wut macht Politik. Sie treibt selbst die satten Bürger auf die Strasse, die Jugendlichen für die Umwelt, die Idioten gegen Corona.

Wut malt Transparente, schlägt Schaufenster ein, Wut skandiert und pöbelt. Wut zerstört und erschafft, sie stürzt und schiebt, treibt und tötet. Wut ist das Prinzip des Handelns. Wut hat entschieden. Sie zweifelt nicht. Die Wut hat verstanden. Sie weiss, wer die Bösen sind. Sie kennt die Verantwortlichen, das Unrecht und die Mittel, es zu tilgen. Die Wut weiss, was zu tun ist.

Die Wut kann vieles, aber eines vermag sie nicht. Wut kann nicht denken.

Wenn uns das Denken erst zu Menschen macht, dann liegt an unserem Anfang nicht die Wut.

Alles vergeht

Am Anfang des menschlichen Bewusstseins ist eine andere Empfindung. Eine Empfindung, die zu dieser Jahreszeit, dem Herbst, gehört. Die Empfindung für den Verlust, das Gefühl, etwas zu verlieren, die Angst, etwas Kostbares nicht in den Händen behalten zu können. Es ist das Gefühl für die Zerbrechlichkeit alles Lebendigen. Das Gefühl für die Zeit. Für die Vergänglichkeit. Es ist Einsicht, wie kostbar jeder Augenblick ist, einerlei, ob er Freude oder Leid bringt. Er ist kostbar, weil er einzigartig ist und niemals wiederkommt. Er entsteht, existiert und ist mit dem nächsten Atemzug schon wieder vergangen. Das ist die Prämisse der menschlichen Existenz.

Und da die Anzahl dieser Augenblicke, die ein Mensch erleben darf, endlich und beschränkt ist, und da alles, was ist, früher oder später vergeht und stirbt – müsste sich dann nicht jeder Mensch beständig fragen, was er mit seiner knappen Zeit anfangen will? Was wichtig ist? Und wofür sich Kraft und Liebe lohnen? Und folgt aus dieser Frage nicht zwingend der nächste Gedanke, was mich nämlich hindert, aus dieser Erkenntnis heraus mein Leben zu leben, zu gestalten, zu teilen? Warum vergeuden wir so oft unsere kostbare Zeit, verschwenden sie für Nebensächliches, Unnützes, Schädliches? Warum tun wir so, als könnten wir irgendetwas auf später verschieben? Später gibt es nicht. Später ist alles weg, verloren, vergangen.

Am Anfang dessen, was uns zu Menschen macht, ist die Einsicht in die Vergänglichkeit. Und deshalb steht am Anfang des Denkens und damit am Anfang der Philosophie, der Politik, am Anfang der Kunst und am Anfang der Religion ganz gewiss nicht die Wut. Am Anfang der menschlichen Kultur steht die Trauer.

Seltsam nur, wie selten sie ein Gesicht bekommt.

Den Trauernden verkauft man nichts

Wir misstrauen ihrer Darstellung, halten sie für betulich und interessant nur für die Erbauungsliteratur. Man hat sie der Frömmlerei überlassen.

Wenn sie doch der Anfang ist, warum kümmert sich sonst niemand um sie?

Wer traurig ist, braucht nicht viel. Er isst wenig, es verlangt ihn weder nach neuen Kleidern noch nach teurem Schmuck. Der letzte Schrei ist ihm egal. Einem Trauernden mag man nichts verkaufen, ausser natürlich, man ist Bestatter oder Schurke. Alle anderen werden warten und sich gedulden.

Scham hat sich der moderne Mensch zum grössten Teil abgewöhnt. Er kann sie sich nicht leisten. Er muss seine Haut schliesslich zu Markte tragen und sich von allen Seiten zeigen, seine Muskeln, seine Kurven, seine Narben.

Niemand weint auf Facebook

Das Auge ist überall, aber Tränen sieht man auf Facebook und Instagram selten. Tränen verlangen lebendige Gegenwart, nicht distanzierte Betrachtung. Einen weinenden Menschen nimmt man in seiner Trauer in den Arm. Man reicht ihm ein Taschentuch. Tränen wirken in der Nähe, dann mögen sie trösten und beruhigen. Aber in der Distanz erscheinen sie falsch, geheuchelt. Da man nichts tun und den Weinenden nicht trösten kann, fühlt man sich peinlich berührt. Und beschämt wendet man seinen Blick ab.

Genau diese Geste will die Aufmerksamkeitsökonomie mit allen Mitteln verhindern.

Und die Politik hat von ihr keinen Gebrauch, weil man sie für passiv hält. Der Trauernde will in Ruhe gelassen werden, er empört sich nicht.

Deshalb findet die Trauer keine Darstellung und ist aus der öffentlichen Sphäre ausgeschlossen, so sehr, dass es mittlerweile fast abwegig erscheint, sie in die Öffentlichkeit zu tragen und zu teilen, sie zum Ausgangspunkt einer Veränderung zu machen.

Trauer ist analytisch

Aber genau das wäre wichtig und nötig. Denn Trauer ist vielleicht schmerzhaft, sie zweifelt und fragt, sie nagt und quält, aber sie ist ehrlich. Falsches Mitleid, verlogene Gesten und Heucheleien erkennt sie augenblicklich. Trauer ist analytisch. Sie will verstehen. Trauer ist neugierig, sie fürchtet sich nicht vor der Erkenntnis. Nur einsam ist sie gefährlich und mitunter tödlich. Sobald man sie mit anderen teilt, wird sie fruchtbar, schöpferisch und heilt. Trauernde Menschen werden sich ihrer Lebendigkeit bewusst. Trauer führt zu Sorgfalt. Weil sie das Gegenüber empfindet und einschliesst, das Du. Nur durch die Trauer begreifen wir, dass alles, was wir lieben und benötigen, von der Vergänglichkeit bedroht ist.

Und haben wir Zeitgenossen nicht allen Grund zur Trauer? Empfinden wir nicht täglich den Verlust, gerade in diesen Tagen? Was gerade noch gültig und heilig war, ist heute bloss ein schlechter Witz. Die alte Sicherheit und die Gewissheit sind verloren. Der Glaube an die Verbindlichkeit gewisser Regeln und Begriffe. Das Vertrauen in die Zukunft. Sogar die Worte verlieren ihre Bedeutung. Und mit jeder neuen Technologie, mit jeder Restrukturierung verlieren wir auch ein vertrautes Instrument und einen Ort der Geborgenheit. Gar nicht zu reden von den Menschen, die wir unterwegs verlieren, auf dem Weg nach – ja, wohin denn eigentlich?

Wohin wollen wir? Es ist diese Frage, die am Anfang der Politik steht. Durch das «Wir» bringt sie die Gesellschaft zur Sprache, sie formuliert das Ziel, das wir uns stecken könnten.

Wäre es deshalb nicht klug, der Jahreszeit zu folgen? Warum nicht einmal die Tränen in die Strassen tragen? Müssen wir, damit wir statt Wut wieder einmal Freude empfinden könnten, nicht zuerst den Mut zur Trauer haben?

Wir könnten in diesem Herbst für einmal die Trauer organisieren und unsere Tränen zur Politik erheben. Sie wäre vielleicht leise, aber es wäre eine Politik der Sorgfalt, der Rücksicht und des Anstands.


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