«Wenn wir zurückgehen können, machen wir ein Dorffest»
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Brienzer in Ungewissheit:«Wenn wir zurückgehen können, machen wir ein Dorffest»

In Brienz bröckelt nicht nur der Berg – sondern auch die Stimmung
«Von einer Rückkehr sind wir noch weit entfernt»

Der Berg rutscht nicht nach Plan. Zwar poltern gelegentlich recht grosse Brocken ins Tal, aber Brienz blieb bisher verschont. Am Mittwoch erfahren die Bewohner, dass sie trotzdem noch lange nicht nach Hause dürfen.
Publiziert: 08.06.2023 um 00:50 Uhr
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Aktualisiert: 08.06.2023 um 09:57 Uhr

Die Brienzerin Ruth Tarnutzer (59) wartet im grossen Saal der Schule in Tiefencastel. Sie wirkt gut gelaunt, aber sie überspiele damit auch ihre Nervosität, sagt sie zu Blick. «Ich bin eigentlich gerade dabei, in eine neue Wohnung im Dorf zu ziehen. Ich möchte wissen, wo wir stehen. Vielleicht erfahre ich heute an der Versammlung etwas mehr», sagt sie hoffnungsvoll.

Die Informationsveranstaltung der Gemeinde ist gut besucht. Der Parkplatz vor dem Gebäude ist fast voll. Nur die Bauern fehlen, sie dürfen noch bis neun Uhr abends die Wiesen mähen, sagt Gemeindepräsident Daniel Albertin gleich am Anfang der Veranstaltung. Dann kommt auch schon bald die schlechte Nachricht: Der Berg ist unberechenbar geworden. Das heisst nichts Gutes.

Das erklärt der Geologe Stefan Schneider der versammelten Brienzer Gemeinde: Seit Mitte Mai hat sich die Beschleunigung des Rutsches von exponentiell auf linear reduziert. «Die Wahrscheinlichkeit eines Rutschstromes ist jetzt grösser geworden, als einzelne Felsstürze. Aber Felsstürze oder sogar ein Bergsturz sind noch immer möglich», sagt der Experte. Er zeigt eine Kurve mit der Geschwindigkeit des Rutsches. Sie zeigt noch immer senkrecht nach oben. Es bleibt gefährlich. Es gibt noch keine Entwarnung, auch wenn es vielleicht ruhiger aussieht, so das Fazit des Experten.

Wünscht sich nichts sehnlicher als die Rückkehr ins Dorf: Ruth Tarnutzer.
Foto: Beat Michel
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Situation belastet

Am Morgen vor der Veranstaltung konnten die Bewohnerinnen und Bewohner kurz in ihre Häuser. «Jeder hat doch irgendetwas vergessen. Gegenstände aus dem Alltag, Erinnerungen, wichtige Dokumente, Kleider», sagt Ruth Tarnutzer. Doch der Besuch zu Hause sei schwierig gewesen: «Ich wusste ja, dass ich gleich wieder gehen muss. Da konnte ich die Zeit gar nicht geniessen. Die Situation belastet, auch wenn ich ein schönes Ersatzzuhause habe.»

Christian Gartmann aus dem Gemeindeführungsstab Albula hat viel Verständnis für den Frust der Brienzer. Er sagt: «Die Situation der Evakuierten ist schwierig. Sie können nur zuschauen. Manche sagen es offen, sie werden ungeduldig. Grundsätzlich aber vertrauen wir den Geologen. Sie verstehen so viel mehr davon als wir.»

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Auch für den Brienzer Renato Liesch (43) war der Kurzbesuch in Brienz schwierig. Nach den maximalen 90 Minuten verlässt er gezwungenermassen das Dorf. Er half zuerst seiner Mutter, dann genoss er sein Zuhause. «Ich habe geduscht und mir den Bart rasiert, und dann habe ich ein paar Sachen ins Auto geladen», erzählt er. Die Zeit war für ihn offensichtlich zu kurz. «Solange die Hirsche und Hirschkühe am Hang stehen, müssten wir doch keine Angst haben», sagt er. «Die Bauern dürfen den ganzen Tag heuen. Warum dürfen wir anderen nur kurz da sein?», regt er sich auf.

Doch auch die Bauern sind nicht ganz zufrieden. Gian Liesch (34) hadert mit dem Schicksal: «Es sind schon immer Steine gepurzelt. Wir haben keine Angst. Es fühlt sich nicht gefährlicher an als früher.» Er hat bereits am Dienstag mit dem Grasschneiden begonnen. «Immerhin das läuft gut», sagt er. «Gestern haben wir fünf Hektaren geschafft, heute noch mal vier. Wir können nur Siloballen produzieren, weil wir nicht zum Hof können. Die Siloballen müssen dann ins Tal, damit sie sicher sind. Im Winter müssen sie vielleicht dann wieder hoch. Über den Sinn denkt man lieber nicht nach», sagt der Bauer.

Doch nach dem Infoabend wird klar, es bleibt gefährlich. Die Entscheidung zu evakuieren war richtig. Christian Gartmann sagt dazu: «Der Gemeindeführungsstab würde noch einmal genauso entscheiden, wenn wir das müssten. Die Evakuierung war nötig. Die Gefährdung hat sich auch jetzt nicht verändert, von einer Rückkehr sind wir leider noch weit entfernt.»

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