Für Ethikerin Nikola Biller-Andorno (50) funktioniert Härte gegen Nichtgeimpfte nur bedingt
«Menschen sind keine Marionetten»

Verhaltensökonom Gerhard Fehr (50) fordert die systematische Diskriminierung von Nichtgeimpften – und wird von Ethikern kritisiert. Doch schon heute schränkt die Gesellschaft im Alltag gewisse Bevölkerungsgruppen ein. Wann akzeptieren wir Diskriminierung, wann nicht?
Publiziert: 08.07.2021 um 06:19 Uhr
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Aktualisiert: 08.07.2021 um 15:11 Uhr
Anna Uebelhart, Katja Richard, Daniel Arnet, Rebecca Wyss, Silvia Tschui

Die Aussagen von Verhaltensökonom Gerhard Fehr sorgen für Aufsehen. Im Blick forderte er Härte gegen Nichtgeimpfte, bis hin zur systematischen Diskriminierung.

Bei Ethikern stossen die Aussagen Fehrs auf wenig Gegenliebe. Nikola Biller-Andorno (50), Professorin für Medizinethik an der Universität Zürich, sagt: «Menschen sind keine Marionetten, auch wenn dies Ökonomen gerne glauben.» Sie sei dagegen, Menschen zur Impfung zu drängen. «Ich würde eher auf gute Argumente setzen.»

Doch Fehr versteht die Aufregung nicht. Diskriminierung sei «nichts Neues, sie begegnet uns dauernd im Alltag», sagt er.

Medizinethikerin Nikola Biller-Andorno sagt: «Ich bin nicht dafür, Leute zur Impfung zu drängen. Ich würde eher auf gute Argumente setzen.»
Foto: STEFAN BOHRER
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Tatsächlich gibt es diverse Alltagssituationen, in denen die Gesellschaft bestimmte Gruppen bereits heute einschränkt. Beispiel Raucher: Um vor Passivrauchen zu schützen, ist in der Schweiz das Rauchen in öffentlichen, geschlossenen Räumen seit 2010 verboten.

Bei genauem Hinschauen gibt es aber Unterschiede. «Der indirekte Zwang, einen Impfeingriff an meinem Körper vornehmen zu lassen, greift um ein Vielfaches mehr in grundsätzliche Persönlichkeitsrechte ein als das Verbot, etwas an einem bestimmten Ort nicht tun zu dürfen», erklärt Kulturwissenschaftler und Medizinhistoriker Eberhard Wolff (61) und vergleicht dabei die Impfung mit dem Rauchverbot.

Es darf den Alltag nicht umkrempeln

Doch was braucht es, damit eine Gesellschaft die Einschränkung gewisser gesellschaftlicher Gruppen akzeptiert? Ethikerin Nikola Biller-Andorno sagt, die Massnahmen dürften sich nur punktuell auswirken und nicht den gesamten Alltag ganzer Bevölkerungsgruppen umkrempeln. «Dann ist das Verständnis und die Bereitschaft zur Kooperation da.»

Bei der Impfung, so Medizinhistoriker Wolff, gehe es darum, mit welchen indirekten Zwangs- und Druckmitteln ein bestimmtes gesundheitsrelevantes Verhalten hervorgebracht werden soll. Die Reaktion der Schweizer Bevölkerung auf mögliche restriktive Massnahmen zur Durchsetzung der Impfung sei schwer vorauszusagen. Aber: «Wenn die Konsensdemokratie in Richtung Kasernenhofdemokratie geht, muss man sich nicht wundern, wenn es plötzlich knirscht oder kracht», sagt Wolff.

Allerdings: In vielen Bereichen werden Ungleichbehandlungen und gar Verbote gut akzeptiert. Das zeigen diese vier Beispiele aus dem Alltag.

Rauchen ist in der Schweiz seit 2010 in öffentlichen, geschlossenen Räumen verboten, damit schützt das Bundesgesetz vor Passivrauchen. Die Raucher geraten indessen weiter unter Druck. So wird immer wieder diskutiert, ob Krankenkassenprämien verhaltensabhängig werden sollen und damit für Raucher teurer. Eine vom Bund in Auftrag gegebene Studie, die 2019 publiziert wurde, zeigt, dass Raucher zwar hohe Kosten verursachen – diese aber weit mehr als decken. Zudem finanziert die Tabaksteuer die AHV zu fünf Prozent mit, im Jahr 2018 waren es 2,08 Milliarden Franken.

Krankenkassen Gleiche Versicherungstarife für Mann und Frau – der Grundsatz gilt in der EU seit 2012. Anders in der Schweiz: Frauen zahlen bei Krankenzusatz-, Krankentaggeld- und Lebensversicherungen mehr als Männer. Zum Teil viel mehr, wie eine Studie von Comparis zeigt. Besonders bei der meistverbreiteten Spitalzusatzversicherung «Allgemein ganze Schweiz» sind die Frauenprämien bis zu 25 Prozent höher. Die Begründung: Frauen lebten im Schnitt länger, gingen häufiger zum Arzt.

Autoversicherungen Unfallfrei fahren und trotzdem viel mehr für die Autoversicherung bezahlen? Das passiert auf Schweizer Strassen all jenen, die den falschen Pass in der Tasche tragen. «Autoversicherer bitten Ausländer kräftig zur Kasse», ist das Fazit einer Studie des Vergleichsdienstes Comparis aus dem Frühjahr 2021. Konkret: Für Staatsangehörige aus dem Balkan und der Türkei gibt es einen Prämienzuschlag von durchschnittlich 60 Prozent (Blick berichtete). Happig ist der Aufpreis bei Baloise, TCS und Helvetia: Dort bezahlen Albaner, Kosovaren oder Serben über 80 Prozent mehr als Schweizerinnen und Schweizer.

Wohnungen Glücklich ist auf Wohnungssuche, wer Meier, Müller oder Rösti heisst. Pech hat hingegen, wessen Name mit -ic endet. Das hat eine Forschungsgruppe der Universitäten Genf, Neuenburg und Lausanne nach der Auswertung von über 11’000 Bewertungen herausgefunden (Blick berichtete). Mit dem falschen Nachnamen, insbesondere mit serbischem, kosovarischem oder türkischem Hintergrund, haben Wohnungssuchende zehn Prozent weniger Chancen auf einen Besichtigungstermin. Das gilt insbesondere für günstigen Wohnraum.

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