Lukas Bärfuss über Asylpolitik
Unverdientes Schicksal

Zum vorerst letzten Mal erscheint an dieser Stelle der monatliche Essay von Lukas Bärfuss. Er beschreibt am Beispiel der Menschen aus Eritrea fremdenfeindliche Reflexe in der Schweizer Asylpolitik und erinnert daran: Wir alle ziehen mit unserer Geburt ein Los.
Publiziert: 19.05.2024 um 10:00 Uhr
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Aktualisiert: 19.05.2024 um 12:17 Uhr
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Lukas BärfussSchriftsteller

Das Schicksal ist unbarmherzig, grausam und ungerecht, und zum ersten Mal schlägt es bei unserer Geburt zu. 

Man findet sich wieder in einem schönen Land, reich an landschaftlichen Reizen: hohe Berge, tiefe Schluchten, fruchtbares Hochland, 1000 Kilometer Küste, ein Archipel, der für seinen Reichtum an Fischen und Vögeln in der Welt einzigartig ist. Aber all die Pracht hilft nichts: Freiwillig hätte man sich dieses Land niemals als Geburtsort ausgesucht. 

Ein greiser Diktator herrscht seit 33 Jahren. Die Opposition wurde ausgeschaltet, in den Kerker geworfen, ins Exil gezwungen. Die Gerichte verdienen diesen Namen nicht, es sind Institutionen der Willkür und der Brutalität. Medien gehören dem Informationsministerium und sind gleichgeschaltet. Das Regime wütet und kontrolliert jeden Aspekt des Lebens. Wenn es um Freiheit und Gerechtigkeit geht, steht das Land in allen Rankings auf den letzten Plätzen.

Eritrea ist reich an landschaftlichen Reizen, doch …
Foto: Corbis via Getty Images
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Um die Bürger zu unterdrücken, hat sich das Regime eine perfide Institution ausgedacht: den sogenannten Nationaldienst. Es ist ein System zur Versklavung der Bevölkerung. Man wird zwangsverpflichtet: entweder als Arbeitskraft oder als Kanonenfutter in der Armee. Wie lange dieser Dienst dauert? Niemand weiss es. Es ist keine Seltenheit, dass Menschen während Jahrzehnten zur Sklaverei gezwungen werden, keine Ausbildung machen können, ihren Familien entrissen, um alle Lebenschancen gebracht werden.

Jeder vernünftige Mensch will dieses Land verlassen. Aber wie früher in der DDR braucht er eine Ausreisegenehmigung. Er muss eine Reue-Erklärung unterschreiben und sich verpflichten, dem Regime lebenslang zwei Prozent seines Einkommens zu bezahlen. Weigert er sich, hält die Regierung alle Dokumente zurück – keine Pässe, keine Geburtsurkunden. Das Regime erpresst und unterdrückt ihn sogar im Ausland: Wie soll er sich bei den Behörden in seiner neuen Heimat ausweisen, wie soll er Anträge stellen, Bewilligungen einholen? 

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«Die hohe Schutzquote beweist die katastrophale Situation im Heimatland.»
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In der Schweiz lebten Ende des vergangenen Jahres 43’357 Menschen aus diesem Land, aus Eritrea am Roten Meer. Hier die restlichen Zahlen, die man kennen muss, um sich ein Bild über die Situation zu machen: Die überwiegende Mehrheit, nämlich 34’700 Personen, verfügen über eine Niederlassungs- oder eine Aufenthaltsbewilligung. 8300 sind vorläufig Aufgenommene, und nur 350 waren in einem offenen Asylverfahren. Für diese sind Chancen, in der Schweiz bleiben zu können, hoch. Von 100 Asylgesuchen werden 82 bewilligt. Die hohe Schutzquote beweist die katastrophale Situation im Heimatland – aus Gefälligkeit erteilt das Staatssekretariat für Migration kein Asyl.

Die allermeisten Menschen aus Eritrea sind hier also keine Gäste, sie leben auf Dauer in unserem Land, bauen sich in der Schweiz ihre Existenz auf. Ihre Kinder wachsen mit unserer Kultur, unseren Werten auf, teilen sie, entwickeln sie. Sie sprechen unsere Sprache. Sie werden nach schweizerischen Lehrplänen ausgebildet, arbeiten gemäss den hiesigen Gesetzen und Gepflogenheiten. Sie bezahlen Steuern und Sozialabgaben. Sie werden in der Schweiz alt und werden vermutlich niemals in ihre alte Heimat zurückkehren. Diese Menschen gehören zu uns. Sie sind unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger. Nur der fehlende Pass unterscheidet sie. Das Land braucht sie, ihre Arbeitskraft, ihre Ideen und ihre Erfahrung. Sie sind fleissig und friedlich. Und wie bei allen anderen Bevölkerungsgruppen macht ein kleiner, ein sehr kleiner Teil Probleme.

In der Schweiz leben 300 Personen aus Eritrea, die kein Asyl erhalten und das Land verlassen müssten. 300 von über 40'000. Weniger als ein Prozent. 

Dieser Bruchteil ist für einen Teil der Politik kostbar, wertvoller als die 99 Prozent, die sich an Recht und Gesetz halten. Diesen Politikerinnen dienen die Menschen aus Eritrea als Fussabtreter für ihren Populismus.

Zuletzt war es Petra Gössi, die im Ständerat Stimmung machte. Mit einer Motion verlangte sie, dass der Bundesrat mit einem Drittland ein Transitabkommen abschliessen solle, damit man diese Eritreer endlich ausschiffen könne. Natürlich weiss Petra Gössi, dass ihr Vorschlag das Problem nicht löst. In ihr Heimatland reisen dürfen Eritreer nur freiwillig. Die Einreise wird jenen verweigert, die gezwungenermassen kommen. Ein Transitabkommen würde daran nichts ändern. Wie der Bundesrat in seiner Stellungnahme feststellt, müsste man sich auf das Prinzip Hoffnung verlassen und in allen anderen Fällen die Menschen nach einem kurzen, teuren Ausflug in ein fernes Land zurück in die Schweiz befördern.

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«Petra Gössi und ihre Kolleginnen greifen zu den billigsten Tricks aus der Mottenkiste des Rechtspopulismus.»
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Nicht obwohl, sondern weil der Vorschlag jeder Sinnhaftigkeit entbehrt, wurde die Motion Gössi in der kleinen Kammer angenommen. Es sind die Irrwege einer Politik, der es nicht gelingt, die zentralen Herausforderungen anzugehen, und die bei den grossen Aufgaben versagt: keine Verträge mit der Europäischen Union. Keine gesicherte Altersvorsorge. Eine Klimapolitik, die gegen die Menschenrechte verstösst. Eine Politik, die trotz einer gesetzlichen Grundlage nichts gegen die Abzockerei in den Teppichetagen unternimmt. Und die gleichzeitig zulässt, dass die unteren Einkommen immer mehr von den steigenden Kosten zu tragen haben. Es ist die Unfähigkeit und die Inkompetenz von Petra Gössi und ihren Kolleginnen, die sie zu den billigsten Tricks aus der Mottenkiste des Rechtspopulismus greifen lässt. 

Der Ton, der dabei angeschlagen wird, diese Mischung zwischen Heuchelei und Verlogenheit, ist so bekannt wie widerlich. Ihr Vorstoss sei kein Wahlkampf, meint Frau Gössi, die nationalen und die kantonalen Wahlen seien vorbei, es gehe ihr um eine kreative Lösung für eine Thematik, die bei vielen Menschen ein grosses Unbehagen auslöse. Aber wie ihre Kolleginnen in Italien und Frankreich, Figuren wie Meloni und Le Pen, betreibt Petra Gössi permanenten Wahlkampf. Die Verursacherin und die Nutzniesserin dieses Unbehagens ist sie selbst. Sie weiss, dass sie keine Lösung anbietet und ihre Vorschläge keinen Bezug zur Wirklichkeit haben. Mit ihren absurden Vorschlägen belastet sie die Verwaltung, die Regierung, das Parlament, die Öffentlichkeit. 

Ihre Motion steht für den Bankrott einer Partei, die seit 30 Jahren am Rockzipfel einer rechtsnationalistischen Bewegung hängt. Ihrer Führung fehlt es an politischem wie menschlichem Format. Und weil es ihr an politischer Intelligenz und Gestaltungskraft mangelt, vergiftet Petra Gössi das gesellschaftliche Klima. Statt ihnen das Leben in der neuen Heimat zu erleichtern, macht sie gegen die Menschen aus Eritrea Stimmung. Statt für gute Bildungschancen zu sorgen, damit sie zum Wohl der Schweiz beitragen können, schürt die Ständerätin fremdenfeindliche Reflexe. Wegen dieser Politik müssen sich Menschen gegen Vorurteile wehren, am Arbeitsplatz, in der Schule, bei der Suche nach Wohnraum.

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«Es war das Los, das sie gezogen hat, das unverdiente Geburtsglück.»
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Sie haben dies nicht verdient. Das Schicksal hat sie so schuldlos geschlagen, wie es Petra Gössi bevorteilt hat. Nicht mit Intelligenz, nicht durch Fleiss, nicht wegen ihrer Fähigkeit ist sie in ihre privilegierte Position gekommen, auch wenn sie es bei jeder Gelegenheit behauptet. Es war das Los, das sie gezogen hat, das unverdiente Geburtsglück. 

Wenn man dem vulgären Populismus von Petra Gössi und Konsorten etwas Gutes abgewinnen will, dann die Erkenntnis, wie ungerecht die Göttin Fortuna manche Menschen erniedrigt und andere ebenso unverdient an die Spitze bringt.


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