Lukas Bärfuss über Kulturkampf
Leckmichdochamarsch-Mentalität

Essayist Lukas Bärfuss hat eine Einladung bekommen. Sie löst in ihm eine Gedankenkette aus, denn sie steht für vieles, was politisch auf uns zukommt und gesellschaftlich ungelöst ist – auch wenn es dringend notwendig wäre.
Publiziert: 10.12.2023 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 14.12.2023 um 11:00 Uhr
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Lukas BärfussSchriftsteller

Am Mittwoch übernächster Woche, kurz vor Weihnacht, trifft sich in Bern die Parlamentarische Gruppe Kultur. Das wäre grundsätzlich eine gute Nachricht. Zwar weist die Bundesverfassung die Hoheit über die Kultur den Kantonen zu, zwar spielen die parlamentarischen Gruppen in der Gesetzgebung nur eine marginale Rolle. Aber das Engagement der Abgeordneten der eidgenössischen Räte ist trotzdem wichtig und notwendig. Und das liegt an den Zeitläuften. Denn wir befinden uns mitten in einem existenziellen Kulturkampf.

Nächstes Jahr wählen die USA einen neuen Präsidenten. Wer immer gegen Donald Trump antritt, wird sich keiner politischen Auseinandersetzung stellen müssen. Es geht nicht darum, wie viele Steuern erhoben werden und wofür das Geld ausgegeben werden soll. Nicht um den Umweltschutz geht es, nicht um Militärausgaben, nicht um die Altersvorsorge und auch nicht um die Gesundheitsversorgung. Zuerst wird in den USA ein systemischer Konflikt ausgetragen. Es geht um die Frage, ob die Werte der Aufklärung sich durchsetzen. Hat die Demokratie eine Zukunft? Oder wird der autoritäre Staat im Sinne von Thomas Hobbes siegen? Wie offen wird die Gesellschaft der Zukunft sein? 

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«Es geht um die Frage, ob die Werte der Aufklärung sich durchsetzen.»
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Es sind dieselben Fragen, die sich Deutschland bei den nächsten Wahlen stellen. In Frankreich wird es 2027 der Fall sein – aber es ist keine Sache, die nur den Westen betrifft. Diese Auseinandersetzung wird global geführt. 

«Kultur ist uns Wurst», heisst es auf der Einladung der Parlamentarischen Gruppe Kultur – sie lädt zum Wurstanlass.
Foto: Thomas Meier
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In Indien ist der Einsatz besonders hoch. Wer behält die Oberhand? Premierminister Narendra Modi mit seinem faschistischen Hindu-Nationalismus oder die Verfechter eines multiethnischen Staates, gegründet auf dem Recht, der Freiheit, der Demokratie? 

In der Ukraine wird dieser Kulturkampf blutig ausgetragen. Ein autoritärer Herrscher versucht, das Recht des Stärkeren durchzusetzen. Putin weiss die Hamas auf seiner Seite, die kommunistische Partei Chinas, die Mullahs in Teheran. 

Es ist ein Konflikt um die fundamentalen Regeln, nach denen wir im 21. Jahrhundert zusammenleben werden, ein Krieg der Werte, ein Krieg um die Kultur.

Weil es keine politische Auseinandersetzung ist, verlieren die üblichen Positionen ihre Bedeutung. Universalismus kann konservativ oder progressiv argumentieren, und dasselbe gilt für identitäre Ideologien. Die Lager formieren sich neu, und Orientierung tut not.

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«Eine Koexistenz ist höchstens in einem Gleichgewicht des Schreckens denkbar.»
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Dieser Kulturkampf hat längst die Zivilgesellschaft erreicht. Seit dem 7. Oktober, dem Pogrom der Hamas-Terroristen gegen Israel, wird er so hart und unversöhnlich geführt wie nie seit dem Ende des Kalten Krieges. Wie damals sind Kompromisse ausgeschlossen. Wie damals ist eine Koexistenz höchstens in einem Gleichgewicht des Schreckens denkbar. 

Zwischen den Fragen, die sich stellen, kann es keinen Ausgleich geben. Es ist ein Entweder-oder. Ist vor dem Gesetz jeder Mensch gleich? Haben alle dieselben, unveräusserlichen Rechte? Welches ist das höchste Gut? Ist es das eigene Interesse, der Vorteil der Gruppe, der man angehört? Ist Gewalt als politisches Mittel legitim? Soll das Recht des Stärkeren gelten? Darf man lügen, um seine Sicht der Dinge durchzusetzen? 

Oder wollen wir als Gesellschaft dem Universalismus im Sinne der Aufklärung und damit der Wahrheit, dem Recht und der Freiheit verpflichtet sein?

Das ist die systemische Auseinandersetzung, vor der unsere Generation steht. Bevor sie nicht entschieden ist, kann kein anderes Problem gelöst werden.

Der Club of Rome formuliert es in seinem Bericht aus dem Jahr 2021 deutlich: «Denn die bedeutendste Herausforderung unserer Tage ist nicht der Klimawandel, der Verlust an Biodiversität oder Pandemien. Das bedeutendste Problem ist unsere kollektive Unfähigkeit, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden.»

Die Fähigkeit, die Welt und ihre Zeichen zu lesen, eben Wahrheit von Lüge und Propaganda zu unterscheiden, ist fundamental für eine Demokratie. Diese Fähigkeit wird uns nicht in die Wiege gelegt. Das Lesen der Welt und ihrer Zeichen müssen wir mühsam erlernen. Es ist ein lebenslanger Prozess, für jeden Menschen. Und es ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Vorausgesetzt, sie ist der Wahrheit verpflichtet – und der Freiheit, diese Wahrheit sagen zu dürfen, sie sagen zu können. 

Leider haben wir die Entwicklung, die Pflege dieser Fähigkeit, lange vernachlässigt. Die Pisa-Studie hat das Defizit offengelegt: Ein Viertel der untersuchten Schweizer Jugendlichen im Alter von 15 Jahren erreicht die Mindestkompetenzen im Lesen nicht. 

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«Die Jugendlichen sind so klug wie jede Kohorte vor ihnen.»
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Aber bevor man sich auf die Schülerinnen und Schüler einschiesst: Sie sind so klug wie jede Kohorte vor ihnen. Was ihnen fehlt, sind die Erwachsenen, die es ihnen beibringen.

Buchstaben zu formulieren, daraus Worte zu bilden, die Worte zu einem korrekten Satz zu bauen: Das ist komplex. Man braucht Jahre, um es zu lernen. Und doch ist es nur der Anfang. Einen Text zu lesen, ihn mit der Welt und anderen Texten in eine Verbindung zu bringen, bedarf Aufmerksamkeit, Pflege, Sorgfalt und Zeit.

Und das ist teuer, schwer messbar und auf dem Arbeitsmarkt kaum zu kapitalisieren, im Sinne der Wirtschaft ineffizient und also überflüssig. Wir meinten, darauf verzichten zu können. Obwohl fast alles, was unsere Gesellschaft erreicht hat, was unsere Kultur ausmacht, wir dem Lesen zu verdanken haben.

Man kann auf Bildschirmen lesen, keine Frage, es hat Vorteile, was den Zugang betrifft, aber richtig lernt man lesen durch die räumliche Erfahrung, durch die Dreidimensionalität des Buches. In wenigen Jahren hat man eine jahrtausendealte Kulturtechnik, das Lesen von Büchern, dem technischen Fortschritt, der kompetenzorientierten Bildungspolitik geopfert. Nun wird der historische Irrtum deutlich. 

Wir überlassen unsere Kinder der unausgesetzten Propaganda autoritärer, undemokratischer, faschistischer Mörder. Über Social Media haben die Lügen pausenlos Zugang zu ihrer Vorstellungswelt. Ohne ihnen die entsprechende Ausrüstung zu geben, schicken wir die Jugend, die Bürgerinnen und Bürger in einen gnadenlosen, existenziellen Kulturkampf. Die verbreitete Gleichgültigkeit gegenüber dieser Entwicklung ist so erschreckend wie die fehlende Bildung.

Gut also, trifft sich die Parlamentarische Gruppe Kultur in Bern. Wie meinten doch Anita Fetz und Hans Furer so treffend und voller Ideale, als sie vor bald 20 Jahren diese Gruppe revitalisierten? «Das Verhältnis der Politik zur Kultur darf nicht nur als Standortmarketing oder simple Repräsentationsaufgabe verstanden werden: Es dient dem staatlichen Selbstverständnis und der nationalen Identität.» 

Leider ist es nicht sicher, ob die drei Dutzend Gruppenmitglieder die Zeichen der Zeit erkannt haben. Und leider ist sicher, dass die Haltung dieser parlamentarischen Gruppe die Malaise, die Ignoranz und die Gleichgültigkeit in der Gesellschaft deutlich vor Augen führt. 

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«Sie sind stolz auf ihre LeckmichdochamArsch-Mentalität.»
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Die Pisa-Studie ist nämlich nicht traktandiert, die Bildungspolitik auch nicht, natürlich auch nicht die desaströse wirtschaftliche Situation der Kulturschaffenden, nicht die Identitätspolitik, nicht der Universalismus, keines der drängenden Themen. Das alles ist ihnen nicht nur egal, nein, sie sind stolz auf ihre Leckmichdochamarsch-Mentalität und bekennen sie öffentlich und freimütig auf der fleischfarbenen Einladungskarte: «Kultur ist uns Wurst, aber Wurst ist uns Kultur! Neu auch mit Vegiwürsten.» 

Es ist nicht klar, was hier fehlt, ob Bildung, Scham oder Intelligenz, sicher ist nur, dass man diese Einladung auch dann nicht verstehen würde, selbst wenn man sie lesen könnte.

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