Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Wie die Nazis den Juden den Witz stahlen

«In Zeiten der Pandemie könnten wir alle mehr denn je eine Impfdosis jüdischen Lachens vertragen», schreibt Louis Kaplan in seinem neuen Buch, worin er aufzeigt, wie die Nazis den Witz vom Lustigen ins Lächerliche zogen.
Publiziert: 16.11.2021 um 08:10 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Heinrich Heine (1797–1856) brachte mich zur Literatur, Leonard Cohen (1934–2016) zur Musik und Woody Allen (85) zum Film. Von Letzterem stammt folgende witzige Anekdote: «Heute sah ich einen rotgelben Sonnenuntergang und dachte: Wie unbedeutend bin ich doch! Natürlich dachte ich das gestern auch, und da hats geregnet. Mich überkam Ekel vor mir selbst, und ich dachte wieder an Selbstmord – diesmal wollte ich direkt neben einem Versicherungsvertreter tief einatmen.»

Ein selbstironischer Text, wie ihn alle drei jüdischen Kulturschaffenden Heine, Cohen und Allen mit Witz schreiben konnten. Typisch halt, sagt man gemeinhin. Denn wie schrieb schon Edmund Edel (1864–1934) in der ersten deutschsprachigen Abhandlung zum jüdischen Witz: «Der Jude liebt es, sich nicht nur über die anderen lustig zu machen, sondern scheut nicht davor zurück, bei jeder Gelegenheit seine eigene Persönlichkeit zu ironisieren.» Und weiter steht in «Der Witz der Juden» von 1909: «Diese Selbstironie des Juden hat eine riesengrosse Masse von guten Bemerkungen und Witzen geschaffen.»

Louis Kaplan (61), Professor für Geschichte, Fotografie- und Medientheorie an der Universität Toronto, zitiert Edel in seinem kürzlich erschienenen Buch «Vom jüdischen Witz zum Judenwitz». Es ist keine Humorsammlung, vielmehr eine tieftraurige historische Aufarbeitung der Entwicklung vom lustigen jüdischen Witz im 19. Jahrhundert über den lächerlich machenden Judenwitz in der Nazizeit bis hin zum Antisemitismus der Trump-Ära. Es ist die minutiös dargelegte Geschichte eines Diebstahls.

Bekannt für seinen Witz: Der US-Filmemacher Woody Allen.

«Der Grat zwischen jüdischer Selbstironie und Antisemitismus ist ein schmaler», schreibt Kaplan, «und ihre Nähe zueinander der Grund, warum eine kulturelle Aneignung bzw. Entwendung so ohne Weiteres möglich ist.» Die Frage sei, ob die in diesen Witzen zum Ausdruck gebrachte Selbstironie und ihre Darstellung jüdischer Schwächen für die Juden gut oder schlecht seien. Für den jüdischen Humor seien sie sicherlich ein Gewinn. Kaplan: «Aber haben wir es hier mit Selbstironie zu tun oder mit ‹Selbsthass›?»

Eine Frage, über die selbst die jüdische Gemeinde trefflich streiten konnte. Ein richtiggehender Konflikt entbrannte in der Weimarer Republik, als sich Alfred Wiener (1885–1964), Funktionär des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in einem Zeitungsartikel offen gegen das Berlin Kabarett der Komiker wandte, wo viele jüdische Künstler bis zur Machtergreifung der Nazis ihre Witze rissen. «War es ein Zufall, dass Wiener 1925 vor den Nazis als der grössten Bedrohung für die Juden warnte und im gleichen Jahr in der C.V.-Zeitung einen Artikel über das antisemitische Potential jüdischen Witzes veröffentlichte?», fragt Kaplan rhetorisch.

Kaplan zitiert aber auch die schauderhafte Notiz des Nazi-Propaganda-Ministers Joseph Goebbels (1897–1945) von 1942: «Das Judentum hat nichts zu lachen.» Und er zeigt auf, dass sich der Führer von diesem Gelächter verfolgt fühlte. Kaplan: «Vergessen wir also nie, dass es genau das war, das Adolf Hitler ebenso sehr fürchtete wie verabscheute.»

Louis Kaplan, «Vom jüdischen Witz zum Judenwitz – eine Kunst wird entwendet», Die Andere Bibliothek

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