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Engadin – das Mekka für Skiferien war einst arm

Jetzt ist wieder das halbe Mittelland für Skiferien im Engadin. Starke Frauen sorgten dafür, dass es sich zur Brüderschaft der Sorglosen entwickeln konnte.
Publiziert: 13.02.2024 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 13.02.2024 um 17:22 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Die Engadiner Sportferien meiner Kindheit waren zum Kotzen. Nicht des Ziels wegen, nein, keineswegs: Die Ferienwohnung bei Frau Costa im verschneiten Pontresina war gemütlich. Aber bei der An- und Rückfahrt mit dem Auto musste ich nach den 26 Kehren über den Julierpass immer erbrechen – und das, obwohl mein Vater die Kurven besonders sanft nahm. Es half nichts: Nach den 43 Kilometern links, rechts, rauf und runter musste er stets einen Stopp einlegen, damit ich am Strassenrand den Krähen rufen konnte.

«Strassenreste oberhalb von Silvaplana und nördlich der Passhöhe deuten auf eine intensive Nutzung des Juliers hin», schreibt der Historiker Karsten Plöger (54), der von 2010 bis 2018 in der Schulleitung des Lyceums Alpinum in Zuoz GR sass. Als Wahlengadiner auf Zeit hat der Deutsche kürzlich eine «Biografie der Landschaft» veröffentlicht, «die erste Gesamtdarstellung zur Geschichte des Engadins» – von der Gletscherschmelze (9000 v. Chr.) über die Eroberung durch die Römer (15 v. Chr.) und den Beginn des Tourismus (1860) bis zur Gegenwart.

Vom heutigen Jetset in St. Moritz GR weit entfernt, war das Engadin über lange Zeit ein von Landwirtschaft geprägtes, ärmliches Tal. Viele Männer suchten ihr Glück als Söldner oder Zuckerbäcker im Ausland. «Die Auswanderung verschob allein schon in numerischer Hinsicht das Verhältnis zwischen den Geschlechtern», schreibt Plöger. In drastischer Weise sei das im Oberengadin geschehen: «In der Wohnbevölkerung Celerinas übertraf um 1800 der Anteil der Frauen und Mädchen den der Männer und Knaben um gut das Doppelte.»

Ein magischer Ort, doch lange waren Engadiner Dörfer wie Ardez arm.
Foto: Getty Images

«Engadinerinnen» heisst ein dieser Tage erscheinendes Buch der im Unterengadiner Dorf Sent lebenden deutschen Schriftstellerin und Journalistin Angelika Overath (66). Sie porträtiert darin 18 Frauen aus dem Bündner Hochtal – von der Tierarztassistentin aus Samedan über die Weberin aus Madulain bis zur Musikerin aus Scuol. Aus dem Universitätsstädtchen Tübingen kommend, fiel Overath vor 17 Jahren auf, dass die Engadinerinnen anders sind: «Sie schienen mir auf eine besondere Weise stark zu sein.»

Zum Beispiel Adriënne Hanegraaf-Kruit (48) aus Ftan, die seit dem Tod ihres Mannes Peter Kruit 2018 Direktorin des Hotels Val Sinestra ist: «Eine gewisse Waghalsigkeit habe ich von Peter gelernt.» Oder die Primarlehrerin Ramona Clalüna (26) aus Sils Maria, deren portugiesische Mutter im Fextal im Service arbeitete und einen Pferdekutscher heiratete. Oder die Studentin Seraina Campell (25) aus Pontresina, die sich für ihr Dorf nur eines wünscht: «Einheimische, die Traditionen kennen, und Zugezogene, die Neues mitbringen.»

Pontresina war früh offen für Neues, wie Plöger in seinem Buch aufzeigt: Nach der Erstbesteigung des Piz Bernina (1850) entwickelte sich der Ort zum Mekka für englische Bergsteiger. Durch den aufkommenden Tourismus bildete sich eine Parallelgesellschaft, die der Schriftsteller Stefan Zweig (1881–1942) treffend als «Brüderschaft der Sorglosen» bezeichnete.

zVg
Karsten Plöger

«Das Engadin – Biografie einer Landschaft», Hier und Jetzt.

zVg

«Das Engadin – Biografie einer Landschaft», Hier und Jetzt.

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Angelika Overath

«Engadinerinnen – Frauenleben in einem hohen Tal», Limmat; ab 14. Februar im Handel.

zVg

«Engadinerinnen – Frauenleben in einem hohen Tal», Limmat; ab 14. Februar im Handel.

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