Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
Klimawandel trifft Frauen und Arme mehr

«Es gibt kein richtiges Leben im falschen», sagte einst der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno (1903–1969). Die deutsche Philosophin Friederike Otto (41) fordert angesichts des Klimawandels dementsprechend keine Kurskorrektur, sondern einen Richtungswechsel.
Publiziert: 21.01.2024 um 18:00 Uhr
|
Aktualisiert: 13.02.2024 um 17:24 Uhr
Blickgruppe_Portrait_46.JPG
Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

In der Psychologie nennt man sie «Raumtäuschungen»: Irrtümer im Einschätzen von Winkeln, Flächen oder Strecken. Einmal befiel mich eine Täuschung in der St. Patrick’s Cathedral in New York – herumschauend hätte ich in der Mitte schwören können, ich sei von der entgegengesetzten Richtung reingekommen. Und auf einer Wanderung im Schwarzwald stiegen wir links eine Anhöhe rauf, gingen dann vermeintlich wieder auf den Weg runter. Doch es war der Parallelweg auf der anderen Seite des Hügels, sodass wir in die verkehrte Richtung liefen.

Andersrum gehen und denken, das fordert die deutsche Physikerin und Philosophin Friederike Otto (41) in ihrem aktuellen Bestseller. «Was wäre, wenn wir der Historikerin und Aktivistin Rebecca Solnit folgend die Geschichte andersrum erzählen würden», schreibt sie, «dass nämlich unser jetziges Leben voller Härten und Entbehrungen ist und Reichtum und Überfluss erst noch kommen werden?» Eine schwierige Vorstellung für uns in der reichen Schweiz, die wir unsere Pfründe pflegen und unter Verlustängsten leiden.

Doch für die allermeisten Menschen würden sinnvolle Massnahmen gegen den Klimawandel eine höhere Lebensqualität, mehr Gesundheit, bessere Häuser, mehr Schmetterlinge und Bienen bringen – davon ist Otto überzeugt. Die Klimatologin des Imperial College London weist nach, dass es die Armen sind, die unter Hitze, Dürre, Flut und Feuer besonders leiden. Für ihre Forschung hat sie das «Time»-Magazin 2021 in die Liste der «100 einflussreichsten Personen des Jahres» aufgenommen.

Frauensache: Feldarbeit erledigen Gambierinnen auch bei grosser Hitze.
Foto: Sobli

Otto fordert eine Abkehr vom kolonialen, patriarchalen und fossilen Denken, denn das befeuere letztlich den Klimawandel, unter dessen Folgen besonders afrikanische Staaten und dort speziell Frauen leiden. «Was die Klimakatastrophe mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat» bezeichnet die Wissenschaftlerin ihr Buch deshalb im Untertitel. Und sie nennt das Beispiel Gambia, wo Frauen für die Nahrungsbeschaffung zuständig sind und auch bei grösster Hitze draussen auf dem Feld arbeiten müssen.

Otto staunte nicht schlecht, als sie nach Daten über wetterbedingte Katastrophen im westafrikanischen Staat suchte. «Seit 1900 weist Gambia neun Dürren, zehn Überschwemmungen, sechs Stürme und einen Waldbrand auf», so die Forscherin. «Aber keine einzige Hitzewelle.» Schaue man zum Vergleich nach Europa, so seien dort allein seit Beginn des 20. Jahrhunderts 83 Hitzewellen registriert, die zu mehr als 140’000 Todesfällen geführt hätten.

Nicht, dass es in Afrika keine Hitzeopfer gäbe – doch niemand registriert sie. Otto ortet das Problem in den Datenbanken zu Extremen, die Konzerne und Forschungsorganisationen in westlichen Ländern führen. Und dort ist man an Afrika schlicht nicht interessiert. «Dies ist natürlich kein Zufall, sondern eine Konsequenz des kolonialfossilen Narrativs, das unsere Welt prägt», schreibt Otto. Es spiegle ganz grundlegend die Arroganz wider, mit der die westliche Gesellschaft dem Thema Klimagerechtigkeit gegenüberstehe.

Friederike Otto

«Klimaungerechtigkeit – was die Klimakatastrophe mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat», Ullstein

«Klimaungerechtigkeit – was die Klimakatastrophe mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zu tun hat», Ullstein

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?