Zoologisch – Direktor Severin Dressen erklärt
Die Schöne und kein Biest

Severin Dressen (33) ist Direktor des Zoos Zürich und kennt die wilden Geheimnisse seiner Bewohner.
Publiziert: 04.06.2022 um 15:17 Uhr
Severin Dressen

«Was ist eigentlich Ihr Lieblingstier?», ist eine Standardfrage, die in jedem längeren Gespräch aufkommt. Meine Antwort lautet jeweils, dass ich als Direktor eines Zoos «diplomatisch korrekt» natürlich kein Lieblingstier habe. Tatsächlich stimmt es, dass ich nicht DAS eine Lieblingstier habe. In einem der letzten Interviews hat mich die Nachfrage aus dem Konzept gebracht: «Und warum nicht? Warum haben Sie kein Lieblingstier?» Da ich keine Antwort darauf hatte, liess mich die Frage auch am Abend nicht mehr los. Beim Nachdenken fiel mir auf, dass viele «Normalbürgerinnen und Normalbürger» ein Lieblingstier haben. Von uns Zoo-Menschen haben das die wenigsten. Einer der Gründe liegt bestimmt darin, dass wir uns so sehr für Tiere begeistern, dass wir sie zu unserem Beruf gemacht haben. Und begeistert sind wir ja nicht nur von einer Tierart, sondern von der ganzen Tierwelt. So verhält es sich auch bei mir. Jedes Tier hat etwas Einzigartiges und in den allermeisten Fällen etwas Wunderschönes. Natürlich ist es einfach, die Schönheit einer Giraffe zu sehen – ihre langen Beine, der anmutige Gang, die langen Wimpern und ihr glänzendes Fell. Oder das Süsse an einem Erdmännchen, mit seinen grossen Augen und seinem quirligen Treiben.

Aber auch Schönheiten auf den zweiten Blick können begeistern. Nehmen Sie sich Zeit für den Pfeilgiftfrosch bei uns im Terrarium. Sie werden sehen: Er ist nur wenige Zentimeter gross, dafür prächtig gefärbt. Die starken Farben und Kontraste, die filigranen Gliedmassen, die mit kreisförmig verbreiterten Zehen enden, ziehen in den Bann. Oder noch simpler: Was passiert, wenn Sie der Versuchung widerstehen, eine Fliege, die auf Ihrem Arm landet, sofort abzuschütteln? Wenn man sich die Zeit nimmt, die durchsichtigen Flügel anzugucken, mit den feinen Adern, die die Flügel durchziehen, und man beobachtet, wie die Fliege mit den Vorderbeinen ihren Kopf und die Mundwerkzeuge putzt, denkt man unweigerlich: Einfach faszinierend! Eigentlich genauso faszinierend wie die langen Wimpern der Giraffe … Probieren Sie es aus!

Die Begeisterung für die Tierwelt sorgt bei uns Zoo-Menschen dafür, dass wir Tiere erhalten wollen. Denn: Was man liebt, will man bewahren. So übernehmen wir im Zoo Verantwortung für Tiere, für die kleinen wie die grossen. Diese Begeisterung und den Willen, Verantwortung zu übernehmen, wollen wir auch auf unsere Gäste übertragen. Nur wir Menschen sind imstande, Verantwortung zu übernehmen. Eine Giraffe würde nie Verantwortung für einen Pfeilgiftfrosch übernehmen. Verantwortung übernehmen ist leicht – aber man muss wollen. Nutzen Sie doch die nächste Chance, sich für ein Tier zu begeistern, für seine Schönheit und seine Einzigartigkeit. Wenn Sie sich vor einer Fliege ekeln, warten Sie auf den nächsten Schmetterling, schauen Sie einer Amsel zu oder besuchen Sie die Giraffen bei uns im Zoo. Beobachten Sie die Tiere, lassen Sie sich begeistern und wandeln Sie diese Begeisterung um in Verantwortung. Und vielleicht finden Sie dabei sogar Ihr neues Lieblingstier. Oder halten es wie ich und sehen die Schönheit eines jeden Tieres.

Der Blaue Pfeilgiftfrosch ist einer der vielen faszinierenden Bewohner des Zoo Zürichs.
Foto: Anja Stettin
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