Michael Hengartner, Chef des ETH-Rats, beantwortet Fragen
Wozu sind Viren da?

Joël Mesot, Martin Vetterli und Michael Hengartner sind so etwas wie die obersten Wissenschaftler der Schweiz. In ihrer Rubrik stellen sie sich den Fragen der Leserinnen und Leser rund um die Wissenschaft.
Publiziert: 06.04.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 02.04.2022 um 13:06 Uhr
Michael Hengartner

«Was treibt Viren an, sich zu verbreiten? Welche Funktion üben sie aus? Welche Rolle spielen sie in der Evolution des Menschen? Übertragen sie Informationen?» – Armin Burkart

Lieber Herr Burkart

Herzlichen Dank für Ihre Fragen. Als Biologe gebe ich Ihnen gerne eine naturwissenschaftliche Antwort. Eine Philosophin oder ein Theologe würde Ihnen wohl noch weitere Gedanken mitgeben können.

Biologisch gesehen ist klar, dass alles, was lebt, irgendwann stirbt. Um nicht auszusterben, muss man sich deshalb fortpflanzen. Das stimmt sowohl für einzelne Zellen wie auch für Individuen, Populationen oder ganze Arten.

Viren sind bezüglich Fortpflanzung speziell, denn sie sind so «einfach gestrickt», dass sie sich nicht selber vermehren können. Sie benötigen eine Wirtszelle, die sie «überfallen» können. Dieser jubeln sie ihr Erbgut unter, welches die Kontrolle über die Zelle übernimmt, und schon wird diese gezwungen, Hunderte neue Viren zu produzieren. Im Laufe der Evolution hat sich diese Strategie als so erfolgreich erwiesen, dass es kaum eine Spezies gibt, die nicht von Viren befallen wird.

Üben Viren damit eine Funktion aus? Das ist eine Frage der Betrachtungsweise. Wenn Sie ein Aquarium haben, setzen Sie vielleicht ein Putzerfischlein hinein, damit dieses die alten Schuppen und Parasiten des Zackenbarsches frisst. Für Sie hat das Fischlein die Funktion, den Barsch gesund zu halten. Dem Fischlein selbst aber ist das egal, Schuppen und Parasiten sind einfach Nahrungsmittel. So betrachtet hat eigentlich nichts in der Natur einen «Zweck». Aber das Verhalten Einzelner hat durchaus Effekte – manchmal positive, manchmal negative – auf ihr Umfeld. Das stimmt sowohl für einzelne Individuen wie auch für ganze Arten.

Da Viren in den allermeisten Fällen schädlich sind, haben Individuen, die sich dagegen schützen können, bessere Überlebenschancen. Dies hat über einen langen Zeitraum zur Entwicklung von unterschiedlichen Schutzmechanismen gegen Viren geführt. Bakterien entwickelten die Restriktionsenzyme und die Gen-Schere CRISPR, die wir heute in der Gentechnologie einsetzen. Wir Menschen haben von unseren Vorfahren ein hochraffiniertes Immunsystem geerbt, das uns nicht nur gegen Viren, sondern auch gegen Bakterien und weitere Parasiten schützt.

Übertragen Viren genetische Information? Ja. Auch Viren haben ein Erbgut, welches aus DNA oder manchmal, wie bei Covid- oder Grippe-Viren, aus RNA besteht und Anleitungen beinhaltet – im Falle von Viren hauptsächlich, wie diese aussehen sollen und wie sie die Wirtszelle übernehmen und sich vermehren können. Diese Information wird dann an die nächste Viren-Generation weitergegeben. Bei den allermeisten Virenarten wird aber die DNA des Wirts nicht verändert, denn die Viren-DNA wird nicht mit der DNA der Wirtszelle vermischt. Wenn ich Ihnen Zellen entnehme und ihr Genom analysiere, kann ich nicht sagen «Der hatte als Kind die Masern», denn das Masernvirus hat in Ihren Genen keine Spuren hinterlassen. Retroviren, wie das HIV-Virus, bilden hier eine interessante Ausnahme – mehr dazu ein anderes Mal.

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