Lukas Bärfuss über unsere Mitschuld am Krieg
Die blutige Rechnung

Der Angriffskrieg Putins sei unvorstellbar gewesen, sagen heute viele. Wie heuchlerisch, schreibt Lukas Bärfuss. Wir hätten den Krieg kommen sehen können. Aber wir entschieden uns fürs Geschäft.
Publiziert: 05.03.2022 um 17:34 Uhr
Lukas Bärfuss

In Kiew, in Charkiw, in Odessa, in der ganzen Ukraine verteidigen die Menschen in diesen Stunden mit ihrem Leben die Freiheit, das Recht, die Demokratie.

Sie kämpfen nicht nur für sich. Sie kämpfen im Namen von allen, die in Demokratie und Freiheit leben wollen. Putins Armee greift auch uns an, jeden von uns.

Und so hoffen und beten wir, dass die Ukraine nicht verlieren werde. Aber mit unserer Bewunderung für die Helden, mit jedem Leben, das für die Demokratie geopfert wird, wird eine Frage drängender, schmerzhafter, beschämender: Was haben wir im Westen getan, um die Demokratie, die Freiheit und das Recht zu verteidigen?

Sind wir so heldenhaft wie die Menschen in der Ukraine? Wie gross ist unser Opfer? Was ist sie uns wert, die Demokratie?

Ein ukrainische Mann trauert im Spital von Mariupol um seinen Sohn.
Foto: keystone-sda.ch

Kämpften Sie, sehr geehrter Herr Bundespräsident Cassis, als Sie vor zwei Jahren noch, im Februar 2020, in Minsk eine Botschaft eröffneten, kämpften Sie da für die Demokratie?

Fuhren Sie zu Lukaschenko, um die Menschenrechte zu verteidigen? Lachten Sie im Kampf um die Demokratie in die Kameras und schnitten den süssen Kuchen in den Landesfarben an, bei diesem Bluthund, der die demokratische Bewegung in seinem Land in den Kerker sperrt und umbringen lässt und gemeinsame Sache mit Putin macht? Kämpften Sie da, Herr Cassis, um die Demokratie, oder kämpften Sie um das Geschäft?

Bundespräsident Ignazio Cassis bei der Eröffnung der Schweizerbotschaft in Minsk am 3. Februar 2020 zusammen mit dem Belarussischen Aussenminister Vladimir Makel.
Foto: keystone-sda.ch

Haben Sie, Herr Bundespräsident, damals geglaubt, der Diktator würde sich in einen Menschenfreund verwandeln, wenn Sie nur genug Handel mit ihm treiben? Wollten Sie einfach, dass Herr Spuhler seine Züge verkaufen konnte, oder haben Sie sich gefragt, wer in diesen Zügen von Minsk nach Gomel an die ukrainische Grenze fahren wird?

Und als Sie, verehrte Damen und Herren Verwaltungsräte des Energiekonzerns Axpo, sich mit 42 Prozent an der Trans Adriatic Pipeline der Faschisten aus Aserbaidschan beteiligten, freuten Sie sich da über einen Sieg der Menschenrechte und der Demokratie?

Und als Sie, verehrte Parlamentarierinnen und Parlamentarier, im September 2020 ein Doppelbesteuerungsabkommen abschlossen mit dem Tyrannen bin Salman, der kaum zwei Jahre zuvor in der eigenen Botschaft in Istanbul den Journalisten Kashoggi umbringen liess – haben Sie damit die Pressefreiheit in Saudi-Arabien verteidigt? Oder die Souveränität Jemens, die Zivilbevölkerung in der Stadt Saana, die vom Regime in Riad zu Tode gebombt wurde? Ein Doppelbesteuerungsabkommen im Kampf um das Völkerrecht?

Bundesrat Ueli Maurer auf Besuch beim saudischen Kronprinz Mohammed bin Salman.
Foto: Twitter

Und all jene, die jetzt von den Russinnen und Russen Offenbarungseide verlangen: Habt ihr nach den Giftmorden gefragt, wie die Oligarchen, mit denen ihr Geschäfte macht, zu Putin stehen?

Und Sie, Damen und Herren Sportfunktionäre: Schickten Sie vor zwei Wochen die Jugend an die Olympiade zu den Faschisten in Peking, damit sie dort die Menschenrechte der Uiguren verteidigte? Sollte sie in den Stadien für die Demokratiebewegung in Hongkong kämpfen? Oder sollte sie Propaganda betreiben mit den Geschäftspartnern, also für jene, die Demokraten jagen, verfolgen, in den Kerker werfen lassen und erschiessen? Und waren die Medaillen, die diese Jugend zurückbrachte, Orden für die Verteidigung der Menschenrechte, für den Frieden, für die Freiheit? Freute sich deshalb das halbe Land darüber?

Diese Zeitung könnte ich füllen, und meine Fragen wären nicht zu Ende. Aber ich kenne die Antwort, es war in all den Jahren immer dieselbe: Man soll die Dinge nicht vermischen! Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Sport ist Sport, Geschäft ist Geschäft, und Menschenrechte sind Menschenrechte.

Aber diese Antwort ist seit dem 24. Februar unmöglich geworden. Und so braucht man eine Entschuldigung: Es war unvorstellbar, dass er so weit gehen würde! Niemand hat es kommen sehen! Putin ist völlig unberechenbar geworden!

Wie falsch das ist, wie dumm, wie heuchlerisch. Und wie genau es die Blindheit, den Bankrott unserer Gesellschaft offenbart.

Bevor Putin die Ukraine angriff, liess er bereits Tschetschenien in Schutt und Asche legen. Er überfiel Georgien, die Krim, Syrien, er bombardierte Krankenhäuser in Aleppo und in Grosny, er liess Menschen, die sich ihm widersetzten, auf offener Strasse ermorden, vor dem Kreml, in Salisbury, in Berlin.

Polizisten sichern einen Tatort im britischen Salisbury, wo russische Agenten einen Giftanschlag auf Sergei Skripal und seine Tochter verübten.
Foto: DUKAS

Nichts davon musste man sich vorstellen. Hinsehen hätte gereicht. Aber jene, die sich heute entschuldigen, haben gestern die Augen verschlossen und nach jedem Krieg ihre Geschäfte mit dem Faschisten ausgeweitet. Belohnt haben sie ihn für seine Kriege, seine Morde.

Wie kann man von seiner Unberechenbarkeit überrascht sein, wenn doch genau die Unberechenbarkeit jede totalitäre Herrschaft ausmacht? Sie anerkennt keine Regeln, sie herrscht durch die Willkür, sie kennt nur ein Prinzip: Offene Gewalt gegen alle, die sich der Macht widersetzen.

Das ist die Lebenslüge unserer westlichen Gesellschaft. Der törichte Glaube, die Wirtschaft werde die Faschisten befrieden. Die naive Hoffnung, wir würden sie im Griff haben. Die arrogante Überzeugung, alles berechnen zu können.

Aber ein Faschist interessiert sich nicht für die ökonomischen Kalkulationen, er macht keine Kosten-Nutzen-Analyse, ihm ist der Profit egal: Ein Faschist glaubt an Gewalt, er glaubt an Blut, an Boden, an die Opfermystik, an Mord und Totschlag. Nicht erst seit einer Woche, das war immer so.

Und jetzt seid ihr erstaunt, in euren Tabellen dafür keine Formel zu finden? Was sich nicht in Zahlen oder Tabellen darstellen liess, das konnte und wollte man nicht sehen, dafür fehlte die Vorstellungskraft.

Wer will erzählen, es habe den 24. Februar gebraucht, den Bombendonner in Kiew, die Brände in Charkiw, die Toten in Odessa, um dies zu verstehen? Ausgerechnet hier, in Europa, das von den Faschisten erst kürzlich in Schutt und Asche gelegt wurde?

Ein Gebäude im Stadtzentrum von Cherniw nach einem russischen Luftangriff am 3. März.
Foto: keystone-sda.ch

Haben die wirtschaftlichen und politischen Eliten nicht auch damals geglaubt, sie könnten die Faschisten kontrollieren, indem sie Geschäfte mit ihnen machten? Und gab es nicht schon damals ein böses, ein tödliches Erwachen?

Warum habt ihr unsere eigene Geschichte nicht in die Rechnung gesetzt, als ihr eure Geschäfte und eure Wirtschaftspolitik betrieben habt? Habt ihr diesen Posten ignoriert, weil seine Kosten zu hoch gewesen wären, zu schlecht fürs Geschäft?

Es war ja so einfach, blind zu sein. Denn im Kampf um die Demokratie haben die Bildungspolitiker und die Verleger das Unberechenbare aus den Lehrplänen, aus den Zeitungen, aus unserem Bewusstsein geräumt, die Theater aus den Spalten, die Bücher aus den Sendungen. Im Kampf um die Demokratie wurde an den Universitäten der Geist ersetzt durch Evaluation, Kritik durch Kennzahlen, Fantasie durch Vergleichbarkeit. Es musste alles in eine Rechnung passen.

Findet ihr nicht auch, dass man weniger an der Berechenbarkeit der Welt und mehr an der Vorstellungskraft hätte arbeiten sollen? Aber das alles hielt man für schöngeistig und überflüssig. Der Jugend und der Wirtschaft abträglich. Und jetzt ist man erstaunt, dass Faschisten in keine betriebswirtschaftliche Rechnung passen.

Wenn wir das gemacht hätten, was niemanden reicher, aber alle klüger macht, wenn wir uns mit den Erfahrungen früherer Generationen, wenn wir die Zeugen, die Literatur ernst genommen hätten, dann hätten wir die einfache Lektion begriffen: Demokraten machen mit Faschisten keine Geschäfte. Mit jedem Franken, den man ihnen gibt, zahlt man an die eigene Vernichtung. Mit jeder Fracht, die man ihnen abnimmt, beschleunigt man den eigenen Untergang.

Aber wie nannte man jene, die daran erinnerten? Man nannte sie Moralisten, man nannte sie Gutmenschen, Träumer. Man lachte sie aus, verspottete sie, sie waren aus der Mode gekommen, und wenn das nicht half, dann denunzierte man sie als Extremisten.

Im besten Fall sah man sie als Idealisten. Aber es war umgekehrt. Geträumt haben jene, die glaubten, dass vor der Macht der wirtschaftlichen Argumente auch die Faschisten ihre Waffen strecken würden. Die überzeugt waren, die Faschisten würden die Demokratie nur in ihrem eigenen Land angreifen. Jene, die hofften, die Faschisten würden sich mit der letzten blutigen Beute begnügen. Und jetzt stehen sie vor unserer eigenen Tür, drohen mit den Nuklearwaffen, und man redet von einer Zeitenwende. Habt ihr die Demokraten in Grosny und in Aleppo gefragt, wann sich ihre Zeit gewendet hat?

Das Al-Quds Spital in Aleppo nach einem russischen Luftangriff im Jahr 2016.
Foto: AFP

Und sind jene, die davon reden, wie anders nun alles sei, wirklich aufgewacht? Oder reden sie weiter im Schlaf und flüchten in den nächsten Traum, in jenen der Waffen und der Militarisierung? Wollen sie damit die Demokratie verteidigen? Oder weiterhin mit den Faschisten ihre Geschäfte betreiben, nur dieses Mal mit der Pistole in der Hand?

Und auch hier ahne ich die Antwort. Es ist der Sachzwang: Mit dieser Moral gibt es keine erfolgreiche Volkswirtschaft!

Nein, ohne diese Moral gibt es keine Demokratie, kein Recht und keine Freiheit.

Die Demokratie, die Menschenrechte und die Freiheit sind teuer. So teuer, dass die Menschen in der Ukraine bereit sind, sie mit ihren blossen Händen zu verteidigen und ihr Leben dafür zu geben.

Die Demokratie, die Menschenrechte und die Freiheit sind billig. So billig, dass wir im Westen, in der Schweiz, nicht bereit waren, auch nur den geringsten Preis dafür zu bezahlen.

Jetzt liegt sie auf dem Tisch, eure blutige Rechnung.


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