Lukas Bärfuss über die Sauregurkenzeit
Die Flügel der Verblödung

Nicht alles, was fliegen kann, sollte auch abheben. Die Folge: Wir befinden uns in der Sauregurkenzeit, schreibt der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss.
Publiziert: 24.07.2022 um 16:30 Uhr
Lukas Bärfuss

Es ist Sauregurkenzeit, jene Tage, an denen nichts geschieht und wir Dinge hören, von denen sonst nie die Rede ist, die im hektischen Geschehen in der restlichen Zeit des Jahres übersehen werden. Wer sie findet und zu lesen weiss, zieht reiche Lehren daraus. Jetzt erscheinen Meldungen, die in der Menge der wichtigen und wesentlichen Nachrichten sonst unbekannt bleiben. Sie bleiben in der Regel unbeachtet, weil sie blöd sind oder peinlich, und das trifft nicht nur auf Malheurs, Unfälle und Irrflüge zu, sondern ebenfalls auf die Wahrheit.

Saure Gurken.
Foto: Getty Images


Aber da auch wir hier Zeit und Raum haben, wollen wir uns kurz der namensgebenden Gemüseart zuwenden. Alle lieben Gurken. Trotzdem hat das Gemüse der Art Cucumis sativus einen schlechten Ruf. Wer mit einer Gurke verglichen wird, darf es selten als Kompliment verstehen. Gurken gelten als geschmacklos, als fade. Ihr Äusseres ist unansehnlich. Grün mag die Farbe der Hoffnung sein, aber die längliche, gebogene Form erzwingt manche unvorteilhafte Analogie, gerade mit Körperteilen, über die man in der Öffentlichkeit ungern spricht, wie etwa Nasen, mit denen Gurken manche Ähnlichkeit aufweisen. Hier wie dort findet sich eine Krümmung, hier wie dort ist bei manchen Exemplaren die Haut von Warzen übersät, was weder dem pflanzlichen noch dem menschlichen Ansehen zum Vorteil gereicht.

Ferner: Gurken gehören zur Familie der Kürbisgewächse, verlangen, wie bereits «Merck's Warenlexikon für Handel, Industrie und Gewerbe» aus dem Jahre 1920 wusste, Wärme und Sonnenschein, versagen aber bei Nässe und bei stürmischer Witterung. Gurken sind ein Schönwettergemüse. Neben dem unansehnlichen Äussern ist dies ein weiterer Grund für den mangelnden Respekt.

Foto: MONTAGE SonntagsBlick Magazin

Ihren Wert erhält eine Gurke erst durch die entsprechende Behandlung. «Zu sauren oder Salzgurken eignen sich nur mittelgrosse, nicht zu reife, noch etwas harte, fleckenlose Exemplare.»

Das Zeug, so lernen wir, ist also nicht nur geschmacklos, sondern dazu auch noch heikel.

Deshalb hat diese Panzerbeere reichlich Eingang gefunden in den Volksmund und in den Witzebestand der einfachen Leute. Die Unterschicht mag Verballhornungen, um sich über die Herrschaft lustig zu machen. Eine kleine Anekdote, die Gurken mit der Aviatik in Verbindung bringen, folgt an dieser Stelle ein wenig weiter unten.

Das einfache Volk urteilt, und es urteilt oft hart und ungerecht. Gerade Gurken haben schwer an Vorurteilen zu tragen.

Was fliegt und besser am Boden bliebe, kann als fliegende Gurke bezeichnet werden.

So hat die Sauregurkenzeit überhaupt nichts mit dem nützlichen Gemüse zu tun. Der Begriff stammt aus dem Rotwelschen, aus der sogenannten Gaunersprache. Auch das ist übrigens eine unpassende Bezeichnung, unkorrekt, verleumderisch. Das Rotwelsch wurde nicht zuerst von Kriminellen gesprochen. Es ist das Idiom der Fahrenden, die sich bis heute der Verfolgung durch die Sesshaften ausgesetzt sehen und sich vor ihnen mit einer Geheimsprache zu schützen versuchen.

Der Spiesser braucht das Fremde, um das Eigene zu verteidigen. Für ihn ist das Eigene gleichzeitig das Schöne, das Wahre und das Gute, das Fremde aber das Hässliche, das Falsche und das Böse. So lautet im Spanischen der entsprechende Begriff für Rotwelsch «Germania». Spanische Beamte der Polizei oder bei der Steuerbehörde verstanden kaum Deutsch. Das hat sich mit dem Massentourismus wohl geändert.

Sprache und die Wirklichkeit, das sind zwei verschiedene Dinge, obwohl das eine mit dem anderen natürlich zusammenhängt, obwohl niemand genau sagen kann, wie. Das Rotwelsch hat jedenfalls nichts mit der Farbe zu tun. «Rot» steht hier für Bettler. «Welsch» ist einfach die fremde Sprache. Das Jiddische hat für «Rotwelsch» einen anderen, höchst anschaulichen und gegenteiligen Begriff gefunden, «Koschemer Loschen» nämlich, es bedeutet «weise Sprache».

In diesem Rotwelsch finden sich Worte mit jiddischer und hebräischer Herkunft, und allen Antisemiten und Antisemitinnen zwischen Kassel und Jakarta, die hier stumm nicken und sich bestätigt fühlen, muss man zu bedenken geben, dass Sesshaftigkeit zur Sprachverblödung führen kann. Jiddisch hingegen bewährt sich durch seine Mobilität, eine Lingua Franca der Intelligenz, der Ausgestossenen und der Verdammten. Den bürgerlichen, sesshaften und den ewigen verblödeten Spiessbürgern ein ewiges Übel. Jiddisch bewährt sich durch seine Genauigkeit, wie wir im Folgenden sehen wollen.

Flugzeug durchfliegt Schallmauer.
Foto: Shutterstock

Die Sauregurkenzeit heisst im jiddischen «Zores- und Jokresszeit». Zores bedeutet Leiden, Unglück, Not, Bedrängnis. Jokres allerdings, und das sollte uns zu denken geben, bedeutet Teuerung und Preisanstieg. Die Sauregurkenzeit ist die Not durch die Teuerung, und damit eine ernste Sache. Scherze darüber verbieten sich. Sie wird vermutlich über den Sommer hinaus dauern, und es ist nicht sicher, ob wir uns mit den Herbstgurken trösten können, von denen sich Merck für den Grosshandel so viel versprochen hat.

Nein, es wird wohl sauer, gekrümmt und warzig bleiben, selbst wenn alle aus dem Urlaub, auch die Beamten und Spiessbürger, wieder zurück an der Arbeit sind und sich um die Dinge kümmern können, die uns alle am Herzen liegen: bilaterale Verträge, Rentenversicherung, Pandemiebekämpfung, Kriegswirtschaft, Energieversorgung, Oligarchen- und Despotenmanagement.

Hier zum Schluss und durchaus zur Erheiterung die versprochene Anekdote. Es ist kein besonders gelungener Witz, das muss ich vorausschicken, ein minderer Vertreter einer reichen, vielfältigen Art. Durchschnitt, nichts Besonderes, und wenn man will, auch hier mit einer Gurke vergleichbar.

Bundesrat Alain Berset im Vorraum des Konferenzsaals vor einer Medienkonferenz über das weitere Vorgehen bei der Bekämpfung des Coronavirus.
Foto: Keystone

Der Witz folgt dem Schema der Scherzfrage, eine reiche Gattung, die Meisterwerke des Tiefsinns und der Wahrheit hervorgebracht hat, gerade in der jüdischen Kultur. Ein wunderbares Beispiel dafür findet sich in Salcia Landmanns einzigartiger Sammlung, und da wir immer noch Platz und Raum haben, dürfen wir auch diese Preziose in ganzer Länge zitieren. Der Witz passt nämlich inhaltlich und macht ferner eine gültige Aussage zur Klimaerwärmung.

«Rebbe, warum ist es heiss im Sommer und kalt im Winter?»

«Nun, im Winter heizt man. Dann strömt die Wärme aus den Häusern und erwärmt die Luft. Bis zum Sommer ist es warm.»

«Aha! Und warum ist es kalt im Winter?»

«Weil man im Sommer nicht heizt!»

Das ist komisch und wahr. Wer warme Winter will, muss auch im Sommer heizen – oder fliegen, zum Beispiel mit einer Cessna. Sie verbraucht gut und gerne 50 Liter pro Flugstunde und sorgt zuverlässig für milde Winter.

Und hier nun die versprochene Verbindung von Aviatik und Gurke:

«Was ist grün und fliegt durch den Urwald?»

«Eine ferngesteuerte Gurke.»

Flugzeugcockpit.
Foto: Getty Images


Ein schlechter, plumper Witz. Denn ob Gurken im Primärwald vorkommen, von wem gewisse Flugobjekte gesteuert werden, von Piloten oder von Gurken, ob diese Gurken oder Piloten selber ferngesteuert sind und falls ja, von wem – das alles bleibt hier ohne Antwort.

Sicher und zusammenfassend können wir nur lernen:

1. Gurken können nicht fliegen.
2. Nicht alles, was fliegen kann, sollte auch abheben.
3. Was fliegt und besser am Boden bliebe, kann als fliegende Gurke bezeichnet werden.

Und, weil noch Platz ist, ein passender Lifehack: Vorsicht vor Abkühlung! Es gibt einen Luftzug, der in der Literatur dokumentiert ist und vor dem man sich in Acht nehmen sollte. Er ist durch Ödon von Horváth dokumentiert, in seinem Roman «Der ewige Spiesser», womit für die Sommertage auch gleich ein Literaturtipp abgegeben ist.

Im zweiten Teil, dort im achten Kapitel, heisst es: «An solchen Tagen wachte er meistens mit einem eigentümlichen Gefühl hinter der Stirn auf. Es war gar nicht so hässlich, es war eigentlich nichts. Das einzig Unangenehme dabei war ein gewisser Luftzug, als stünde ein Ventilator über ihm. Das waren die Flügel der Verblödung.»

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