Ich schäme mich, weil ich nicht traure – Meyer rät
Der Tod Ihrer Mutter ist eine Befreiung

Meine Mutter ist gestorben. Ich erlebe es als Befreiung. Muss ich mich dafür schämen?
Publiziert: 26.06.2021 um 15:08 Uhr
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Aktualisiert: 07.07.2021 um 16:50 Uhr
Thomas Meyer

Keineswegs. Ihre Mutter wird durch ihr Verhalten dafür gesorgt haben, dass Sie ihren Tod so erleben: durch jahrelangen Missbrauch manueller oder verbaler Natur sowie durch dessen mutmassliche Leugnung. Menschen, die andere missbrauchen, stehen ja nie zu ihren Taten, sondern stellen sie entweder als gesunde Reaktion auf eine feindliche Umwelt dar oder behaupten, der Missbrauch habe gar nie stattgefunden. So werden die Opfer gleich noch einmal gedemütigt. Viele von ihnen zeigen danach ein selbstschädigendes Verhalten, weil sie eine derart fundamentale Entwertung erlebt haben, und nicht wenige behandeln ihre eigenen Kinder später genauso schlecht. Sie können stolz sein, wenn Sie es geschafft haben, sich selbst, Ihren Partnern und Ihren Kindern den Respekt entgegenzubringen, der Ihnen verwehrt wurde. Leider ist das die Ausnahme.

Dass Sie das Ableben Ihrer Mutter als Befreiung bezeichnen, liegt wohl daran, dass sie Ihnen nun definitiv nichts mehr antun kann. Vermutlich hatten Sie sich schon lange distanziert, aber jetzt haben Sie endgültig nichts mehr zu befürchten; keine Zufallsbegegnung, keinen Anruf und somit auch keine Erinnerung an die Untaten und auch keine miesen Ausreden mehr. Ihre Empfindungen sind also sehr verständlich. Ebenso verständlich ist es, dass Sie sich fragen, ob Sie sich dafür schämen sollen – eigentlich sollten Sie Ihrer Mutter ja Achtung und Liebe entgegenbringen und nun um sie trauern. Das wäre der natürliche Zustand. Den hat aber Ihre Mutter selbst zerstört. Sie hat es zu verantworten, dass ihr Ableben für ihre Tochter eine Erleichterung darstellt. Es gibt für Eltern kein Recht, sich zu benehmen, wie man will, und für Kinder keine Pflicht, jedes Verhalten zu dulden. Ihre Gefühle sind absolut gültig – und ausreichend. Mehr ist nicht nötig.

Thomas Meyer ist Schriftsteller und schreibt jede Woche im Magazin.
Foto: Thomas Meier
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