Mutter mischt sich zu sehr in mein Leben ein – Thomas Meyer rät
«Brechen Sie mit der Tradition»

Ich (w, 34) habe mich von meinem Freund getrennt. Meine Mutter, die sich gut mit ihm verstanden hat, wurde wütend, liess meine Beweggründe nicht gelten und meinte, ich solle nie wieder eine Beziehung eingehen. Mittlerweile hat sie sich beruhigt, aber ich bin schockiert.
Publiziert: 12.06.2021 um 18:11 Uhr

Vorsicht mit Menschen, die masslos reagieren und ihre Emotionen nicht im Griff haben! Auch wenn sie sich hinterher für ihr Verhalten schämen, hat es doch seine Gründe, und Reue lässt diese nicht verschwinden, sondern überdeckt sie bloss. Die übergriffige Reaktion Ihrer Mutter war gewiss nicht die erste ihrer Art und wird auch nicht die letzte sein. Sie sollten sie daher nicht als harmloses Versehen entschuldigen, sondern als Zeugnis einer Persönlichkeitsstörung einordnen und sich gut überlegen, wie nahe Ihnen Ihre Mutter künftig sein soll.

Der viel zitierte Ablösungsprozess ist nämlich ein beidseitiger Vorgang, und es macht den Anschein, als hätte Ihre Mutter erhebliche Mühe damit. Sie betrachtet Sie offenbar immer noch als kleines Mädchen, das nicht weiss, was richtig ist und was falsch. Das ist nicht gesund und wird Sie, solange Sie es zulassen, daran hindern, ein erwachsenes, unabhängiges Leben mit entsprechendem Selbstwert zu führen. Was übrigens genau die Absicht Ihrer Mutter ist, denn so wird sie bis zu ihrem Tod das behagliche Gefühl haben, gebraucht zu werden, ein extrem wichtiger Mensch zu sein und alles besser zu wissen.

Im schlimmsten Fall wiederholen Sie den ganzen Mist mit Ihren eigenen Kindern, weil er so normal geworden ist – Ihre Mutter wurde von deren Mutter mit Sicherheit durch eine jahrzehntelange «Du hast keine Ahnung und brauchst mich»-Kampagne kleingehalten. Nun ist es an Ihnen, mit dieser fürchterlichen, unter Müttern übrigens weitverbreiteten Tradition zu brechen, indem Sie, soweit nötig, mit Ihrer Mutter brechen. Das heisst, dass Sie ihr nichts mehr erzählen, zu dem sie eine Meinung äussern könnte, die Sie verletzt. Wenn dabei – vorläufig – nur Smalltalk übrig bleibt, ist das halt so. Das ist immer noch besser als verbaler Missbrauch.

Thomas Meyer ist Schriftsteller und schreibt jede Woche im Sobli-Magazin.
Foto: Thomas Meier
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