«Geschichte, jetzt!»
Der Zirkus war stets ein Abbild der Gesellschaft

Die Historikerin Britta-Marie Schenk und der Historiker Daniel Allemann von der Universität Luzern umreissen die Entstehungsgeschichte des Zirkus und erklären, was dieser mit einem Chamäleon zu tun hat.
Publiziert: 30.09.2023 um 17:09 Uhr
Britta-Marie Schenk und Daniel Allemann

Sie waren bestimmt schon mal im Zirkus. Hatten Sie auch gemischte Gefühle? Lustige Clowns und spannende Drahtseilakte, glitzernde Kostüme und atemberaubende Tiernummern, dazu der Geruch der Manege. Gleichzeitig plagt einen die Frage nach dem Wohl der Zirkustiere – und der Zirkusleute. Wie kommt es, dass der Zirkus so eine zwiespältige Institution ist? 

Der erste Zirkus war gar keiner. Denn im Circus Maximus veranstalteten die Römer Wagenrennen. Brot gab es keins, aber Spiele für das ganze Volk. Als Rom unterging, lebten das Imperium und sein Zirkus im Osten weiter. Dem Kaiser in Konstantinopel gefiel es: Er liess sich im Zirkus gern selbst feiern. Doch der Bischof schimpfte, dass seine Zeitgenossen alles über die Zirkusstars wussten, aber nichts über die Bibel. Konkurrenz zur Kirche und für alle offen, zugleich politische Arena des Kaiserkults – schon in der Antike war der Zirkus vielschichtig.

Im modernen Zirkus sah es anders aus, zwiespältig blieb es aber: Dem Briten Philip Astley hatten es die Trickreiter angetan. Im späten 18. Jahrhundert imitierte er ihre Pferdekunststücke erstmals in einer kreisrunden Manege. Schnell gesellten sich Clowns, Jongleure und Pantomimen dazu. Artistinnen begeisterten mit waghalsigen Nummern in hohen Lüften das Publikum. Doch wer fiel, wurde fallen gelassen und gekündigt – für Zirkusleute gab es kein Netz und keinen doppelten Boden. 

Astleys Geschäftsmodell verbreitete sich mit dem Britischen Empire rund um den Globus. Von dort kam auch etwas zurück: exotische Tiere. Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie die Stars in der Manege: furchterregende Raubkatzen, die sich auf die Hinterbeine stellten, und Elefanten, die in die Knie gingen. Der Dompteur demonstrierte die Macht der Menschen über die Tiere – aber auch die Herrschaft des Westens über die fernen Herkunftsländer. Das koloniale Gehabe störte die Zeitgenossen wenig, sogar Menschen aus den Kolonien wurden wie Zirkustiere vorgeführt. Widerstand rief nur die Tierquälerei hervor. Der Zirkus war ein Abbild der Moderne: kolonial und widersprüchlich. 

Ideologische Botschaften transportierte der Zirkus auch in der Sowjetunion. Clowns lobten den sozialistischen Fortschritt und erklärten dem Publikum, warum der Wohlstand dennoch auf sich warten liess: Schuld war natürlich der Feind im Westen. Im Staatszirkus wurden Artisten mit professionellen Trainingsmethoden ausgebildet, und Special Effects hielten Einzug ins Zirkuszelt. Innovation und Propaganda gingen Hand in Hand.

Der alte Zirkus konnte da nicht mithalten und erfand sich in den 1970er-Jahren neu. Tierfrei – alle Tiger danken sehr – und mit dem Menschen im Mittelpunkt. Mit einem Mix aus Leistungssport, Theaterkunst und Livemusik wurden Zirkusse zu globalen Entertainment-Events. Gleichzeitig trat der soziale Zirkus auf den Plan: Für Kinder aus Flüchtlingslagern, Jugendliche aus sozialen Brennpunkten und Opfer von sexuellem Missbrauch war das Zirkusrund ein Safe Space. Sie bestimmten die Spielregeln, Zirkuspädagogen assistierten – gesponsert vom Cirque du Soleil, dem Kommerzzirkus, der sich damit ein gutes Gewissen kaufte. 

Der Zirkus ist wie ein Chamäleon: ausbeuterisch und sozial, künstlerisch und kolonial, Propagandamaschine und Zufluchtsort vor dem harten Alltag. Werden Sie sich jetzt anders fühlen, wenn Sie das nächste Mal in die Manege blicken?

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