Fix zur Gesellschaft
Warum ich den lettischen Unabhängigkeitstag feierte

Einladungen bei Freunden, bei denen man vor dem Haus sitzt oder unter dem Balkon, werden unserer Autorin für immer in Erinnerung bleiben. Auf die Freundschaft!
Publiziert: 09.05.2020 um 12:26 Uhr
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Aktualisiert: 22.05.2020 um 16:31 Uhr
Alexandra Fitz

Der Freund steht oben auf seinem Balkon. Parterre. So ist die Distanz zwischen ihm, der am Geländer mit den immer dichter treibenden Weinreben steht, und uns, die unten auf dem Parkplatz sitzen, gar nicht so gross. Zwei Meter allemal. «Ich habe immer schon zu dir hinaufgeschaut», sage ich ihm. Einen Parkplatz-Abend hatten wir schon vor einer Woche: Man erhielt einen Klappstuhl und ein volles Glas, und als es dunkelte, mahnte er uns, leiser zu sprechen. Die Nachbarn. Nach 21 Uhr schmiss er uns raus. Rausschmeissen ist in diesen Zeiten ein grosses Wort, denn drinnen sind wir nie. Er scheucht uns vom Platz.

Doch an diesem Abend ist etwas anders. Sein Tischchen auf dem Balkon ziert eine weisse Tischdecke, in den Reben klemmt eine kleine Fahne. Österreich? Da sagt der Freund aber bereits: «Heute ist der zweite lettische Nationalfeiertag.» Die Flaggen sind sich sehr ähnlich. Ich gebe zu, ich musste nachlesen (das lettische Rot ist dunkler, karminrot, und der weisse Balken ist schmaler, bei der österreichischen sind alle gleich breit. Ich denke stets: Das könnte eine Frage bei «Wer wird Millionär?» sein). Also: Der 4. Mai wird in Lettland gefeiert, weil die lettische Unabhängigkeit erneuert wurde – erstmals erlangte man sie am 18.11.1918. Die langen Jahre der Sowjet-Okkupation seit dem Zweiten Weltkrieg fanden 1990 ihr Ende. 30 Jahre ist das her. Der Balkon-Freund sagt: «Es ist auch der Tag der weissen Tischtücher!»

Alexandra Fitz, stv. Leiterin SonntagsBlick Magazin
Foto: Thomas Meier

So reicht er uns an diesem Abend ein Gartentischchen und ebenfalls ein weisses Tuch. Wir dürfen zur Feier dieses Tages eine dunkelpinke Pfingstrose aus dem Garten pflücken und sie gemeinsam mit einem weissen Flieder in eine kleine Vase stecken. Schöner könnte kein Tischchen sein. Und welche farbliche Hommage an Lettland! Wir sitzen am Tischchen mit zwei Gläsern Champagner und sind bereit, die Gaben des Gastgebers zu empfangen.

Nie schmeckte Pasta mit selbstgemachtem Bärlauchpesto besser – und dann erst der
1,8-Kilo-Hecht, den er am Tag der Saisoneröffnung, dem 1. Mai, gefangen hatte! Und die kleinen Kartoffeln und geschmorten Tomaten, die ihn begleiteten. Bald schon schaut ein Nachbar vorbei, der Parkplatz-Festschmaus ist ihm nicht entgangen. Während in der Küche ein Fischteller für ihn zubereitet wird, den er oben im 2. Stock essen wird, schenken wir ihm ein Glas Rotwein ein und erzählen von der Unabhängigkeit der Letten.

Nach der selbstgemachten Himbeerroulade und dem Espresso treten wir den Heimweg an. Auf dem Spaziergang durch die Stadt resümieren wir: Ein gutes Essen, ein feiner Wein und Freunde, das ist das, was uns zusammenhält, wenn alles andere nicht hält. Zu Hause im Bett schreibe ich dem Balkon-Freund noch eine Nachricht: «Vielen Dank für diesen schönen Abend. Mir bedeuten diese Einladungen sehr viel, ich werde mich ein Leben lang an diese Abende erinnern.»

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