Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Wenn Ägypten hungert, ist das auch unser Problem

Wir stehen vor einer Ernährungskrise von historischen Dimensionen. Wann, wenn nicht heute, sollten wir grundsätzlich über Produktion und Konsum unserer Lebensmittel nachdenken?
Publiziert: 05.06.2022 um 16:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.11.2022 um 11:43 Uhr
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Wie muss man sich ein Pulverfass kurz vor der Explosion vorstellen? Die ägyptische Regierung vermeldet dieser Tage praktisch jede Tonne Weizen, die im Land geerntet und im Silo eingebracht wird. Mit solchen Erfolgsnachrichten wollen die Behörden den über 100 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern die Gewissheit vermitteln: Es gibt genug Getreide, kein Anlass zur Aufregung! Die Botschaft, die bei den Leuten tatsächlich ankommt, dürfte allerdings genau umgekehrt lauten: Wenn um die Versorgung ein solches Aufheben gemacht wird, gibt es allen Grund zur Panik.

Brot ist in Ägypten das Grundnahrungsmittel schlechthin. Und das Land ist der grösste Weizenimporteur der Welt – wobei im letzten Jahr rund 80 Prozent dieser Einfuhren aus der Ukraine und aus Russland stammten. Wegen Wladimir Putin ist jetzt alles anders. Ein Grossteil des ukrainischen wie des russischen Getreides wird Ägypten nicht erreichen. Das Brot wird knapp. Das Brot wird teuer. Es drohen Hunger und soziale Unruhen.

Dabei ist der Umstand, dass Putin den Hunger gezielt als Waffe einsetzt, nur ein Teil einer umfassenden Ernährungskrise. Der Krieg verschärft eine ohnehin schon fragile Situation, die gleichfalls eine eindeutige Ursache hat: den Klimawandel. In gewissen Regionen der USA kämpfen die Bauern mittlerweile chronisch gegen Trockenheit. Wegen heftigen Regens während der Aussaat rechnet China heuer mit Ernteausfällen von über 20 Prozent. In Indien droht das Gleiche wegen der Rekordtemperaturen im April. Noch nie seit Beginn der Wetteraufzeichnungen vor 122 Jahren war es dort zu dieser Zeit so heiss.

Gieri Cavelty, SonntagsBlick-Chefredaktor
Foto: Paul Seewer
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China ist der grösste, Indien der zweitgrösste Weizenproduzent der Welt. Nun aber horten beide Länder ihre Schätze. Und nicht nur sie: Seit Februar haben mindestens 20 Staaten weitgehende Ausfuhrbeschränkungen für pflanzliche Rohstoffe verhängt. Ein Fünftel der Kalorien, die ursprünglich für den Welthandel bestimmt waren, ist diesem Markt damit entzogen.

Wir stehen vor einer Ernährungskrise von historischen Dimensionen. Wann, wenn nicht heute, sollten wir grundsätzlich über Produktion und Konsum unserer Lebensmittel nachdenken? Jährlich landen hierzulande 2,8 Millionen Tonnen davon im Abfall, das sind etwa 330 Kilo pro Person. Der Fleischkonsum ist in der Tendenz zwar seit längerem rückläufig. 2020 verspeisten Herr und Frau Schweizer freilich immer noch im Durchschnitt 47,3 Kilo – vermutlich mehr, als gesund ist. Im selben Jahr importierte die Schweiz 460'000 Tonnen Getreide allein für die Fütterung von Nutztieren. Genug, um grob gerechnet, 1,5 Millionen Menschen ein Jahr lang zu ernähren.

Hansjörg Küster, Professor für Pflanzenökologie an der Universität Hannover (D), schlug diese Woche in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» vor, dass «Getreide wieder als das geschätzt wird, was es ist: das wichtigste Nahrungsmittel der Menschheit». Für die europäische Landwirtschaft empfiehlt Küster deshalb: Man könnte wieder die traditionelle Einteilung in Acker- und Grünland als Richtschnur nehmen, wie sie bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts über viele Generationen hinweg Gültigkeit hatte. Das würde bedeuten: «Steinige und feuchte Flächen werden zur Tierhaltung genutzt. Das muss ausreichen. Das traditionelle Ackerland aber sollte für den Anbau von Getreide und anderen Kulturpflanzen zur Verfügung stehen.» Der Geobotaniker betont: Niemand müsse zum Vegetarier werden, um die drängenden Probleme der Welternährung zu lösen. Doch sollten wir uns fragen, wie der wertvolle Boden am besten genutzt werden soll.

In der reichen Schweiz tun wir derzeit so, als ginge uns das alles gar nichts an. Dabei dürften die Folgen der gestiegenen Lebensmittelpreise und der sozialen Unruhen in Nordafrika über kurz oder lang auch bei uns zu spüren sein. In den letzten Tagen ist die Zahl der Menschen, die übers Mittelmeer nach Europa gelangen wollen, sprunghaft angestiegen. Natürlich könnte es sich um die übliche saisonale Migration handeln. Es könnte sich allerdings auch eine grössere Flüchtlingsbewegung anbahnen.

Zahlen der Vereinten Nationen machen jedenfalls klar: Vermutlich zum ersten Mal überhaupt stammen die meisten Menschen, die von Afrika nach Europa übersetzen, aus Ägypten. Dort war das Brot bereits kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs um 50 Prozent teurer geworden.

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