«Wir wollen Eis für zukünftige Generationen einlagern»
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Gletscherforscherin erklärt:«Wir wollen Eis für zukünftige Generationen einlagern»

Eiskernforscherin Margit Schwikowski
«Gletscher sind fast wie Lebewesen»

In Gletschern stecken Tausende Jahre Weltgeschichte. Bevor sie wegschmelzen, will Professorin Margit Schwikowski (62) Proben aus der ganzen Welt sammeln. Im Interview spricht sie über ihre Arbeit, hochalpine Expeditionen und ihre Rolle als Frau in der Forschung.
Publiziert: 02.10.2022 um 09:50 Uhr
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Aktualisiert: 02.10.2022 um 12:05 Uhr
Interview: Joschka Schaffner und Katja Richard

Blick: Frau Schwikowski, was fasziniert Sie an Gletschern?
Margit Schwikowski: Ich finde sie wunderschön. Gletscher sind fast wie Lebewesen. Auf den ersten Blick scheinen sie tot, doch tatsächlich fliessen sie und bewegen sich. Das finde ich wahnsinnig ästhetisch. Dazu kommt das Eis als Material. Ich kann es schmelzen, formen, darauf Schlittschuh laufen – und Eiskristalle sind faszinierend. Ich liebe es, mit Eis zu arbeiten.

… und jetzt schmilzt es weg. Müssen Sie sich Sorgen um Ihren Job machen?
Das hoffe ich nicht. Eis enthält so viele Informationen – und wir können heute noch lange nicht alles davon lesen. Es sind einzigartige Archive.

Mehr als sechs Prozent des Eisvolumens gingen 2022 verloren – so viel wie noch nie. Wie lange gibt es noch Gletscher in der Schweiz?
Das sollten Sie die Glaziologen fragen. Für unsere Forschung kommen nur bestimmte Gletscher infrage. In den Alpen sind selbst im hochalpinen Bereich über 4000 Meter die meisten Gletscher schon beeinträchtigt. In der Schweiz gibt es für unseren Zweck nur noch einen Gletscher, der bisher keine Schmelze aufweist, nämlich den Colle Gnifetti am Monte Rosa.

Eiskernforscherin: Margit Schwikowski ist Professorin am Paul Scherrer Institut (PSI).
Foto: Philippe Rossier
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Rekordschmelze bei Schweizer Gletschern

So stark geschmolzen wie in diesem Jahr sind Schweizer Gletscher noch nie: Mehr als sechs Prozent des Eisvolumens gingen 2022 verloren. Die Gründe für das massive Abschmelzen sind einerseits wenig Schnee im Winter und andererseits anhaltende Hitzewellen im Sommer. Das bricht laut dem Bericht der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) auch die Rekorde aus dem Hitzesommer 2003 deutlich. Die Gletscher haben in diesem Jahr rund drei Kubikkilometer Eis verloren. Das sind mehr als sechs Prozent des verbleibenden Volumens. Bislang bezeichnete man schon Jahre mit zwei Prozent Eisverlust als «extrem».

Auf dem Aletschgletscher im Wallis kam durch die Eisschmelze in diesem Sommer das Wrack eines abgestürzten Kleinflugzeugs zum Vorschein.
keystone-sda.ch

So stark geschmolzen wie in diesem Jahr sind Schweizer Gletscher noch nie: Mehr als sechs Prozent des Eisvolumens gingen 2022 verloren. Die Gründe für das massive Abschmelzen sind einerseits wenig Schnee im Winter und andererseits anhaltende Hitzewellen im Sommer. Das bricht laut dem Bericht der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) auch die Rekorde aus dem Hitzesommer 2003 deutlich. Die Gletscher haben in diesem Jahr rund drei Kubikkilometer Eis verloren. Das sind mehr als sechs Prozent des verbleibenden Volumens. Bislang bezeichnete man schon Jahre mit zwei Prozent Eisverlust als «extrem».

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Wie kommen Sie da überhaupt hoch? Ist das nicht gefährlich?
Oft fliegen wir mit dem Helikopter hoch. Das macht es auch einfacher, das Material zu transportieren. Da ist natürlich die Bohrausrüstung dabei, aber auch Lebensmittel und Brennstoff zum Kochen – bis zu einer Tonne Material. Helikopter können jedoch wegen des abnehmenden Luftdrucks ab einer bestimmten Höhe nicht mehr eingesetzt werden. Für höher gelegene Gletscher, wie etwa in Südamerika, wird es dann schon anspruchsvoller. Da gehen wir zu Fuss, schauen aber, dass wir gute Zugangswege haben, auf denen uns auch Träger oder Tragtiere begleiten können.

Mittlerweile bohren Sie seit 30 Jahren in Gletschereis auf der ganzen Welt. Was kann es uns mitteilen?
Im Gletscher sind mikroskopische Partikel aus der Luft eingeschlossen. Das können Schadstoffe sein. Oder auch Pollen. Oder Saharastaub. Aus diesen Verunreinigungen können wir etwa herauslesen, wie sich die Luftverschmutzung entwickelte, welche Pflanzen zu welcher Zeit überhandnahmen oder wie wir Menschen diese Prozesse beeinflussten. Wir können auch Waldbrände oder den Klimawandel untersuchen.

Haben Sie dazu ein konkretes Beispiel?
Wir konnten etwa aufzeigen, wann die Maispflanze in Europa andere Getreide ersetzte – auf einmal tauchen Maispollen in den Eisschichten auf! Auch der grosse Pestausbruch im 14. Jahrhundert hinterliess seine Spuren: Da konnten wir gar keine Getreidepollen mehr nachweisen. Die Pandemie war damals so verheerend, dass in Europa die Felder brachlagen.

Wie viele Jahre können Sie zurückschauen?
Das kommt immer auf den Gletscher an. Teilweise können wir bis zu 10'000 Jahre zurückgehen. Manchmal sind nur ein paar Hundert Jahre möglich. Um das herauszufinden, müssen wir in den Eisbohrkernen die Jahresschichten zählen.

Wie bei einem Baum?
Das kann man so sagen. Auch aus Bäumen kann vieles abgelesen werden. Sie wachsen aber nur im Sommer – Eisschichten das ganze Jahr. Natürlich bieten Gletscher ebenfalls Herausforderungen. Mit Zählen kommen wir nur ungefähr 200 Jahre zurück. Je weiter wir heruntergehen, desto dünner werden die Schichten. Das Eis fängt an, unter dem Druck der darüberliegenden Masse zu fliessen.

Dann ist nach 200 Schichten Schluss?
Für ältere Schichten verwenden wir in unserer Gruppe ein Messverfahren aus der Archäologie: die sogenannte Radiokohlenstoff-Datierung. Da sind wir in der Gletscherforschung führend. Wir erhalten dafür Eisbohrkerne aus der ganzen Welt. Nur muss für dieses Vorgehen genügend eingeschlossenes Material gefunden werden.

Mit dem Eisbohrer war Margit Schwikowski schon auf den Gletschern überall auf der Welt.
Foto: Philippe Rossier

In letzter Zeit häufen sich die Meldungen über freigelegte Flugzeugwracks und Leichen auf Schweizer Gletschern. Wären diese nicht hilfreich für solche Messungen?
Sie wären natürlich super Anhaltspunkte, um das Alter zu bestimmen – Stichwort Ötzi. Nur passiert das eben meistens nicht dort, wo wir messen, sondern unten bei der Gletscherzunge. Manchmal finden wir Insekten, das ist dann schon sehr viel Material.

Bei Insekten kommt einem direkt «Jurassic Park» in den Sinn. Antikes Erbgut aus jahrtausendealten Gletscherschichten – ist das bloss Science-Fiction?
Eis ist ein wunderbarer Konservator. Die Technologien waren aber lange Zeit zu wenig fortgeschritten, um eingeschlossenes Erbgut zu untersuchen. Man muss es dafür schnell und effizient vervielfältigen können. Mittlerweile ist dies möglich. Es ist dieselbe Methode, die auch für die Corona-PCR-Tests verwendet wird. So können Forschende heute die Verbreitung des Menschen nachverfolgen oder auch alte Viren und Bakterien untersuchen. Nehmen wir 1918, das Jahr der Spanischen Grippe: Finden wir Bruchstücke vom Grippevirus im Eis? Das versuchen wir nun herauszufinden.

Man könnte aber durchaus weiter zurück als bloss 100 Jahre.
Diese Möglichkeit bietet sich besonders in der Antarktis. Dort kann das Eis über 800'000 Jahre alt sein. Die darunterliegenden Gletscherseen wurden seither nicht mehr berührt. Das ist unglaublich spannend für Biologen: Welche Bakterien findet man in diesen Seen? Wie haben sie sich entwickelt? Nur ist es nicht so einfach, dies zu untersuchen. Denn sobald man in diese Seen bohrt, werden sie verunreinigt. Da gibt es noch viele Diskussionen darüber, wie dies technisch möglich gemacht werden könnte.

Zur Person

Professorin Margit Schwikowski (62) ist Leiterin des Labors für Umweltchemie am Paul Scherrer Institut (PSI) und forscht seit 30 Jahren an hochalpinem Gletschereis aus der ganzen Welt. Sie ist Mitorganisatorin der internationalen Eiskernkonferenz, die vom 2. bis 7. Oktober erstmals in der Schweiz stattfindet. Die Chemikerin aus Hamburg lebt mit ihrem Mann im Kanton Aargau und hat eine Tochter. Ihre Forschungsgruppe untersucht Eisbohrkerne aus Europa, Südamerika und Asien. Seit 2021 leitet Schwikowski das wissenschaftliche Komitee der internationalen Stiftung Ice Memory, die von der Unesco unterstützt wird. Die Stiftung sammelt weltweit Eiskerne und lagert sie ein. So soll verhindert werden, dass die wertvollen Informationen durch die Gletscherschmelze verloren gehen.

Philippe Rossier

Professorin Margit Schwikowski (62) ist Leiterin des Labors für Umweltchemie am Paul Scherrer Institut (PSI) und forscht seit 30 Jahren an hochalpinem Gletschereis aus der ganzen Welt. Sie ist Mitorganisatorin der internationalen Eiskernkonferenz, die vom 2. bis 7. Oktober erstmals in der Schweiz stattfindet. Die Chemikerin aus Hamburg lebt mit ihrem Mann im Kanton Aargau und hat eine Tochter. Ihre Forschungsgruppe untersucht Eisbohrkerne aus Europa, Südamerika und Asien. Seit 2021 leitet Schwikowski das wissenschaftliche Komitee der internationalen Stiftung Ice Memory, die von der Unesco unterstützt wird. Die Stiftung sammelt weltweit Eiskerne und lagert sie ein. So soll verhindert werden, dass die wertvollen Informationen durch die Gletscherschmelze verloren gehen.

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Wie sind Sie zur Gletscherforschung gekommen?
Ich hatte mich bereits in meiner Doktorarbeit in Hamburg mit Feinstaub beschäftigt. Damals noch in der Luft. Dafür war ich viel auf dem Schiff und im Flugzeug, um Proben zu nehmen. Das war für eine Chemikerin schon recht aussergewöhnlich – normalerweise arbeitet man die ganze Zeit im Labor. In der Schweiz konnte ich dem treu bleiben: Ich untersuchte auf dem Jungfraujoch, wie Schadstoffe in den Schnee gelangen. Vorher hatte ich im Regen gearbeitet, nun im Schnee. Mit dem Vorteil, dass der neue Arbeitsort stabil war – auf dem Schiff wurde ich nämlich seekrank. Wir wussten also, wie die Schadstoffe in den Schnee kamen – können wir sie auch im Eis nachverfolgen? So begannen wir zu bohren.

Mit dem Projekt «Girls on Ice» motivieren Sie junge Frauen für Berge und Forschung. Gleichzeitig sitzen neben Ihnen im wissenschaftlichen Komitee von «Ice Memory» nur Männer. Weshalb fehlen die Frauen in der Forschung?
Diese Frage beschäftigt mich schon sehr lange. Was mir auffällt, ist, dass im Studium die Quote gut ist. Erst danach fällt sie ab – und auf Stufe Professor hat es kaum noch Frauen. Ich denke, daran ist unser System schuld. Für viele Frauen ist die Familienplanung wichtig. Nur passiert die meist genau dann, wenn man diese Karrierestufen durchlaufen muss. Männer konnten stets ihre Karriere machen, ohne sich einschränken zu müssen – dank der Unterstützung der Frauen. Das wissenschaftliche System beruht darauf, Leistungen zu vergleichen, ohne solche Faktoren zu berücksichtigen.

Was mussten Sie selbst für Ihre Karriere opfern?
Mein Mann und ich hatten ein anderes Familienmodell. Er war der Hausmann. Ich arbeitete zu 100 Prozent weiter, während er sich um unsere Tochter kümmerte. Das ist vielleicht nicht das ideale Modell, aber vor 30 Jahren war ein reduziertes Pensum in der Wissenschaft noch weniger akzeptiert.

Sind Sie zuversichtlich, dass sich dies nun ändert?
Ja, die jungen Frauen werden selbstbewusster. Sie fordern mehr ein. Zum Beispiel an Veranstaltungen, wo Bilder von den Expeditionen gezeigt werden – es sind darauf nur Männer zu sehen. Dann folgt gleich die Frage: Wieso war da keine Frau dabei? Das ist ungemein wichtig, weil vielen Menschen gar nicht auffällt, was für ein exklusiver Kreis da abgebildet ist. Daher bin ich optimistisch. Es liegt aber an uns, die Arbeitsmodelle so anzupassen, dass junge Frauen in der Forschung bleiben.

Die Gletscher schmelzen, der Klimawandel nimmt zu, Sie haben eine Tochter: Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft?
Ich bin verhalten optimistisch, dass wir doch eine Lösung finden. Ich spüre es aber bei vielen Jungen: Die haben wirklich Angst.

Wie gehen Sie mit der Debatte um? Es gibt ja kaum ein anderes Forschungsfeld, in dem so politisiert wird …
Wir Wissenschaftler sollten uns an den Fakten orientieren und nicht politisieren. Diskutieren müssen wir nicht mehr: Der Klimawandel ist menschengemacht. Alle, die mir Gegenteiliges erzählen, sind durch andere Interessen getrieben. Ich meine, was müssen wir noch alles zeigen? Bringen wir es nicht richtig rüber? Ist die Menschheit zu träge? Es ist ein grosser Frust. Wir warnen seit Jahrzehnten, dass es für uns schwerwiegende Folgen haben wird. Trotzdem ändert sich nichts. Schlussendlich leben wir alle in unseren eigenen Informationsblasen. Viele Menschen erreicht man gar nie.

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