«Wenn man selbst da ist, sieht man die Schönheit der Natur»
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Teilnehmerinnen «Girls on Ice»:«Wenn man selbst da ist, sieht man die Schönheit der Natur»

Programm «Girls on Ice» soll für Forschung sensibilisieren
Auf diesem Gletscher sind nur Mädchen erlaubt

Glaziologie und Bergsteigen, das sind beides Männerdomänen. Ein Programm bringt nun junge Frauen eine Woche ins ewige Eis – und ermöglicht ihnen einen Einblick in die Welt der Forschung. Die Reportage.
Publiziert: 14.08.2022 um 12:48 Uhr
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Aktualisiert: 15.08.2022 um 10:02 Uhr
Katja Richard (Text) und Andrea Soltermann (Fotos)

Für Elodie (16) hatten Gletscher immer etwas Mystisches und Unerreichbares: «Und jetzt bin ich hier oben und kann einfach übers Eis spazieren. Ich hätte nie gedacht, dass ich das schaffe.» Die Kantonsschülerin aus Baden AG ist eine von neun jungen Frauen, die bei der Expedition von «Girls on Ice» dabei ist. Eine ganze Woche verbringt die Gruppe auf 3000 Meter Höhe ohne Strom und Toilette, dafür mit Sternenhimmel und Bergsee.

Schlammbad auf fast 3000 Meter Höhe: Elodie (l.) und Medea spielen mit dem nassen Sand.
Foto: Andrea Soltermann

Mehr Selbstvertrauen, das ist nur etwas, was die Macherinnen des Camps in den jungen Frauen zwischen 15 und 17 Jahren wecken wollen. «Untersuchungen zeigen, dass sich viele Mädchen schon früh für Naturwissenschaften und Aktivitäten in der freien Natur interessieren, aber mit zunehmendem Alter wenden sie sich davon ab», sagt Natalie Vögeli (35). Die Geologin ist Co-Präsidentin des Vereins Girls on Ice Switzerland. Dessen Ziel ist es, junge Frauen zu inspirieren, ihr Vertrauen in die eigenen körperlichen Fähigkeiten zu stärken und ihrer Neugier für wissenschaftliches Arbeiten nachzugehen.

Frauen unter sich in der Bergwelt

«Bergsteigen und Naturwissenschaften sind noch immer männerdominierte Bereiche», weiss Vögeli aus eigener Erfahrung. «Darum ist es wichtig, dass junge Frauen diese Welt ganz unter sich erfahren können.» Die Bedingung für eine Reportage bei den Gletscher-Girls: Bitte nur Frauen, also eine Journalistin und Fotografin, auch bei den Helfern rund ums Camp sind keine Männer erwünscht. Vögeli: «Das sorgt manchmal für Kopfschütteln, aber unsere Erfahrung zeigt, dass es sich lohnt, wenn wir für das Projekt unter uns bleiben.»

Ilaria: «Hier oben wird einem bewusst, was für eine Auswirkung die Gletscher auf unser Ökosystem haben.»
Foto: Andrea Soltermann
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Eine Woche am Findelgletscher: Die Expedition «Girls on Ice».
Foto: Andrea Soltermann

Leicht ist der Aufstieg nicht, mit mindestens 16 Kilo auf dem Rücken geht es für die jungen Frauen in Richtung Monte-Rosa-Massiv hoch. Die Luft ist dünn, vier Stunden dauert es bis zum Camp auf 3000 Meter Höhe, Wasserflaschen und Zelte fallen zusätzlich ins Gewicht. «Der Rucksack war so schwer, und wir liefen alle im gleichen Tempo bergauf, ich dachte, ich kann nicht mehr», erzählt die Jüngste in der Gruppe, die 15-jährige Maja, als wir sie auf dem Findelgletscher antreffen. Ich kann es ihr nachfühlen, dabei war mein Gepäck leichter, die Strecke kürzer.

Neue Perspektiven aus dem All

Gut oben angekommen sind alle, es ist Halbzeit des Camps, die Stimmung aufgeräumt. Auf dem Programm steht ein Vortrag von der Glaziologin Kathrin Naegeli (35). Sie leitet an der Universität Zürich ein Forschungsprojekt im Bereich Fernerkundung der Erdoberflächen-Energiebilanz. «Wir erforschen, wie sich Gletscheroberflächenparameter dynamisch verhalten und wie diese Parameter die Schmelze beeinflussen.» Den jungen Frauen will sie einen Perspektivenwechsel zeigen, dafür hat sie zwei Blachen mit Satellitenaufnahmen hochgeschleppt: «Was sie hier von ganz nahe sehen, ist aus dem All nicht ersichtlich und umgekehrt.» Einfachstes Beispiel dafür ist die Schneelinie, die auf dem Gletscher verläuft, diese könne man aus der Luft besser vermessen. «Der Schnee ist extrem wichtig, denn er schützt den Gletscher vor dem Schmelzen.»

Glaziologin Kathrin Nägeli erklärt anhand von Satellitenbildern die Dynamik des Gletschers.
Foto: Andrea Soltermann

So wenig Schnee wie dieses Jahr hatte es noch nie auf dem Findelgletscher. Das exponierte Eis, das direkt am Gletscher schmilzt, ist für immer verloren. Dass es in diesem Hitzesommer ohne Niederschläge besonders viel ist, dafür gibt es verschiedene Indikatoren. Was die Forscherin besonders erschreckt hat, ist das viele Wasser in der Matter Vispa, der Fluss, der von Zermatt abfliesst: «So hoch habe ich den noch nie gesehen, und das ist alles Gletscherwasser. Das ist unwiederbringlich.»

Hier oben ist der Klimawandel sichtbar

Die Schülerinnen vermessen die Eisschmelze mit wissenschaftlichen Methoden. Elodie hat mit ihrer Gruppe einen Ablationsmessstab 15 Zentimeter tief ins Eis gebohrt: «Schon nach zwei Tagen war er ausgeschmolzen, innert weniger Stunden schmelzen also drei Zentimeter von der Oberfläche weg. Sichtbar wird das mit dem Messen, sonst hätten wir das nicht bemerkt. Hier oben kann man direkt sehen, was der Klimawandel für Auswirkungen hat.»

Eisklettern in der Gletscherspalte: Eines der Highlights im Camp.

Die Kargheit auf 3000 Meter Höhe erinnert an eine Mondlandschaft, ihre Schönheit entdecke man erst auf den zweiten Blick, so Ilaria: «Das geht mir so nahe, die Natur hier oben ist so kraftvoll und zugleich so verletzlich. Plötzlich wird es ganz real, wie sich das auf unser Ökosystem auswirkt.»

Erobern eine neue Welt: Junge Frauen auf dem Gletscher.
Foto: Andrea Soltermann

Keine von den jungen Frauen kommt vom Gletscher runter wie vorher. «Jede wächst über sich hinaus», sagt die Geografin Lena Hellmann (36), Leiterin des Camps. Jeden Tag schnallen sich die jungen Frauen ihre Steigeisen an und wandern über den Gletscher für ihre wissenschaftlichen Experimente. Zu den Höhepunkten gehört das Ersteigen eines Gipfels als Seilschaft und Eisklettern in einer Gletscherspalte – acht Meter geht es dabei in die Tiefe, ganz ohne Angst geht das nicht. «Das ist eine Herausforderung», sagt Mara (17), Kantonsschülerin aus Hunzenschwil AG. «Aber wir waren alle gut gesichert, und ich wusste, dass ich nicht fallen konnte.»

Ein Höhepunkt des Camps: Gemeinsam in einer Seilschaft auf den Gipfel.

Die Gemeinschaft wächst

Nicht nur das Selbstvertrauen wächst in diesen Tagen auf dem Gletscher, auch das Gemeinschaftsgefühl. Die Mädchen kochen zusammen, schlafen jeweils zu dritt im Zelt, baden im Bergsee. «Wir haben uns alle total gut verstanden, wenn es jemandem nicht gut ging, waren wir füreinander da», sagt Jasmine (16), KV-Schülerin aus Zürich. Und sie habe mega viel gelernt: «Auch über mich selber. Vielleicht weil wir alle keine Handys dabei haben, da hat man mehr Zeit zum Reflektieren.»

Neun junge Frauen auf dem Gletscher: Sie tauchen in die Welt von Forschung und Bergsport ein.
Foto: Andrea Soltermann

Nur unter sich als Frauen zu sein, das sehen die meisten als Vorteil. «Man ist irgendwie vertrauter und hat auch weniger Hemmungen», sagt Julia (17), Gymischülerin aus Bern. Nach sieben Tagen und Nächten fällt es schwer, die Zelte abzubrechen und den vertrauten Kokon, der in dieser unwirtlichen Welt entstanden ist, zu verlassen. «Wir haben uns alle noch nie vorher gesehen. Und jetzt fühlt es sich an, als ob wir uns ein Leben lang kennen», sagt Elodie.

Gletschereis im Tresor

Ganz vorbei ist es aber noch nicht. Die letzten beiden Tage verbringen die Mädchen im Paul Scherrer Institut (PSI) in Villigen AG, das die Expedition unterstützt. Dort präsentieren sie in Kleingruppen ihre Forschungsarbeiten aus ihrer Woche am Gletscher. «Diese jungen Frauen beeindrucken mich jedes Jahr wieder aufs Neue», freut sich Margit Schwikowski (62). Sie ist Leiterin des Labors für Umweltchemie am PSI und Vorstandsmitglied der internationalen Stiftung Ice Memory.

Gigantischer Gletschertisch: Das Eis schmilzt rund um den Felsen weg, darunter entsteht ein Sockel.

Gletschereis birgt wertvolle Informationen über die Vergangenheit unseres Planeten, im PSI lagern Eisbohrkerne von der ganzen Welt im Kühltresor. «Damit können wir 10'000 Jahre oder manchmal sogar länger zurückschauen», erklärt Schwikowski. Ihre Arbeit hat sie zu vielen hochalpinen Gletschern auf der ganzen Welt geführt, um dort Eiskerne zu bohren. «Ich möchte jungen Frauen ermöglichen, diese faszinierende Welt von Schnee und Eis selbst zu entdecken.»

Es ist eine Welt, die es so nicht mehr lange geben wird. «Allein innerhalb der letzten zwei Jahre ist der Findelgletscher um mehr als 300 Meter zurückgegangen. Die Gletscherzunge wird nicht mehr genährt, ein Teil ist eingestürzt.» Mit der Hitzewelle dieses Sommers sei klar: «In 20 bis 30 Jahren wird der Findelgletscher nur noch ein Schatten seiner selbst sein. So wie viele der anderen alpinen Gletscher.»

Glaziologie für Girls

Zum ersten Mal wurde eine «Girls on Ice»-Expedition in der Schweiz 2017 durchgeführt. Der Verein Girls on Ice Switzerland hat das Ziel, junge Frauen für Naturwissenschaften und Outdoor-Aktivitäten zu begeistern und ihre körperlichen und intellektuellen Führungsfähigkeiten zu fördern. Die Idee dazu stammt von der amerikanischen Glaziologin Erin Pettit, unter dem Dachverband Inspiring Girls Expeditions gibt es inzwischen Ableger auf der ganzen Welt. Für das nächste Camp auf dem Findelgletscher können sich Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren ab Dezember bewerben, die Teilnahme ist kostenlos. «Girls on Ice» kommt auch ins Klassenzimmer, die Workshops werden jeweils von einer ehemaligen Teilnehmerin begleitet.

Die Expedition auf den Gletscher für junge Frauen findet jedes Jahr statt.
zvg

Zum ersten Mal wurde eine «Girls on Ice»-Expedition in der Schweiz 2017 durchgeführt. Der Verein Girls on Ice Switzerland hat das Ziel, junge Frauen für Naturwissenschaften und Outdoor-Aktivitäten zu begeistern und ihre körperlichen und intellektuellen Führungsfähigkeiten zu fördern. Die Idee dazu stammt von der amerikanischen Glaziologin Erin Pettit, unter dem Dachverband Inspiring Girls Expeditions gibt es inzwischen Ableger auf der ganzen Welt. Für das nächste Camp auf dem Findelgletscher können sich Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren ab Dezember bewerben, die Teilnahme ist kostenlos. «Girls on Ice» kommt auch ins Klassenzimmer, die Workshops werden jeweils von einer ehemaligen Teilnehmerin begleitet.

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