Archäologe zum neuen Fund in Kaiseraugst AG
«Das Amphitheater ist eine echte Sensation!»

Streitwagen und Togas: Fast 500 Jahre war die Schweiz Teil des Römischen Reichs. In der antiken Stadt Augusta Raurica in Kaiseraugst AG wurde kürzlich per Zufall eines der jüngsten Amphitheater entdeckt. Wir gingen mit Archäologe Peter A. Schwarz (61) auf Zeitreise.
Publiziert: 28.02.2022 um 14:56 Uhr
Interview: Lea Ernst

Herr Schwarz, es regnet, und wir stehen gerade auf einer Baustelle in Kaiseraugst im Kanton Aargau. Wieso?
Peter A. Schwarz:
Unter dem Bootshaus, das hier gerade gebaut wird, hat man per Zufall ein vollkommen unbekanntes Amphitheater aus der Römerzeit entdeckt.

Würden Sie die Zeit gerne 1700 Jahre zurückdrehen?
Dafür rauche ich viel zu gerne Pfeife. Und die alten Römer hatten noch keinen Tabak. Als Forschungsobjekt finde ich die römische Epoche sehr spannend, doch ich trauere ihr nicht nach.

Wie hätte unser Nachmittag damals ausgesehen?
Vielleicht hätten wir das Amphitheater zu unseren Füssen besucht. Und hätten zugeschaut, wie ein Löwe auf ein Dromedar gehetzt worden wäre oder wie sich zwei Gladiatoren bis aufs Blut bekämpften.

Geplant war ein Bootshaus, gefunden hat man hier in Kaiseraugst (AG) ein antikes Amphitheater aus der Römerzeit.

Hätte Ihnen das gefallen?
Naja, es war schliesslich gratis (lacht). Nein, die Shows im Amphitheater galten schon damals als kontrovers. Es kam gar zu Aufständen und Krawallen, ähnlich wie bei heutigen Fussballspielen. Gesponsert wurden die blutigen Events jeweils von vermögenden Leuten der Stadt.

Römisches Amphitheater im Aargau entdeckt
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Hier kämpften mal Gladiatoren:Römisches Amphitheater im Aargau entdeckt

So, wie die Fussballmeisterschaften heute von Marken gesponsert werden?
Ja, aber politischer. Für die alten Römer war das Wahlkampf, zum Beispiel für den Stadtrat. Vielleicht wären Sie und ich damals aber auch etwas kultivierter ins Theater gegangen, das liegt etwas oberhalb von hier in Augst. Auch die Badekultur spielte im alten Rom eine wichtige Rolle. Nur wenige Minuten von hier stehen die Grundmauern der öffentlichen Badeanlagen.

Wie hätten unsere römischen Ichs ausgesehen?
Tragen würde ich wohl eine Toga, Sie wohl einen Peplos. Im Prinzip ist das eine Stoffröhre, die von den Schultern bis gut über die Zehen reicht. Die Frauen trugen zudem komplizierte Steckfrisuren, die mit Haarnadeln aus Knochen, Bronze oder Silber zusammengehalten wurden. Trendsetterin war dabei die Gattin des jeweiligen Kaisers: Dieser liess Münzen mit ihrem Gesicht prägen, und schon verbreitete sich die Frisurvorlage im ganzen Reich.

Die antiken Überbleibsel aus Stein verraten die Geheimnisse eines untergegangenen Imperiums: Die Frauen trugen damals einen Peplos (links), die Männer Toga.

Und wie oft stösst man im Boden auf römische Überbleibsel?
Die heutige Schweiz war fast fünfhundert Jahre lang Teil des Römischen Reichs, deshalb kommt das nicht selten vor. Hier am Rhein, wo wir gerade stehen, wurde im 1. Jahrhundert vor Christus die Kolonie Augusta Raurica gegründet – damals die grösste römische Stadt der Region. Zur Blütezeit wohnten hier um ca. 240 nach Christus zwischen 10’000 und 15’000 Menschen! Weil Augusta Raurica ein wichtiges wirtschaftliches, religiöses und politisches Zentrum war, ist der Boden voller Überbleibsel.

Auch voller Amphitheater?
Nein, der jüngste Fund war eine echte Sensation. In der ganzen Schweiz sind nämlich bislang nur acht davon entdeckt worden, zwei davon in Augusta Raurica. Es ist ein sehr bedeutender Fund, der aufzeigt, dass Augusta Raurica beziehungsweise das spätantike Kastell viel wichtiger war als gedacht und dass auch noch in der Spätantike öffentliche Infrastrukturen errichtet wurden. Die als Baumaterial wiederverwendeten Architekturteile zeigen, dass das Amphitheater erst im 4. Jahrhundert nach Christus gebaut wurde. Das macht es zu einem der jüngsten bekannten Amphitheater im Römischen Reich.

Zur Blütezeit lebten in der römischen Kolonie Augusta Raurica 240 n. Chr. zwischen 10'000 und 15'000 Menschen.

Weshalb siedelten sich die Römer ausgerechnet in Augst und Kaiseraugst an?
Vor der Ankunft der Römer war eigentlich die Stadt Basel wichtigstes Zentrum der Gegend. Doch war dort der Rhein zu tief, um Brücken zu bauen. Hier in Kaiseraugst war der Rhein viel flacher – das merkt man heute nicht mehr, weil er vom nahe gelegenen Kraftwerk massiv aufgestaut wird. Hier in Augst und Kaiseraugst kreuzte sich die wichtigste Ost-West-Achse mit der wichtigsten Nord-Süd-Achse, deshalb war der Standort strategisch interessant.

Wer lebte in der Schweiz, bevor die Römer 44 v. Chr. einrückten?
Die Kelten. Dazu gehörten die Helvetier aus dem schweizerischen Mittelland, also auch aus Zürich, und die Rauriker, die in der Umgebung des Rheinknies lebten. Die beiden keltischen Stämme werden auch vom berühmten Julius Cäsar erwähnt.

Aber in Asterix und Obelix hatte Cäsar doch vor allem mit den Galliern zu tun?
Das sind dieselben, die Römer nannten die Kelten auch Gallier. Ich kann mit Comics eigentlich nicht viel anfangen. Doch in Asterix und Obelix wird das ziemlich gut dargestellt: Fast die gesamte Gegend wird römisch, und zwar nicht nur militärisch oder politisch. Der «Roman Way of Life», also die römische Lebensweise, wurde erstaunlich gern übernommen, aber nicht immer sofort und überall.

Zur Zeit seiner grössten Ausbreitung 117 n. Chr. erstreckte sich das Römische Reich über drei Kontinente rund um das Mittelmeer und bis nach Grossbritannien.

Wieso war die römische Lebensweise so beliebt?
Wegen der verlockenden Errungenschaften: Fussbodenheizungen, ein gut ausgebautes Strassen- und Handelsnetz, das Luxusgüter wie Austern vom Atlantik oder Weinamphoren aus dem Gazastreifen nach Augusta Raurica beförderte. Dazu kam die unglaublich fortschrittliche Medizin. Das war natürlich auch für die einheimischen Kelten interessant. Besonders für die keltische Oberschicht war das Leben «à la Romaine» auch ein sozialer Aufstieg. Leute aus der Oberschicht erhielten das römische Bürgerrecht und konnten sich sogar in den Stadtrat oder in andere Ämter wählen lassen.

Waren diese Errungenschaften das Geheimnis, weshalb sich das Römische Reich nach dem 8. Jahrhundert v. Chr. in tausend Jahren über drei Kontinente rund um das Mittelmeer und bis nach Grossbritannien ausbreiten konnte?
Unter anderem. Die Römer machten das sehr raffiniert, quasi mit Zuckerbrot und Peitsche. Einerseits war das Römische Reich militärisch sehr stark, hatte eine gut ausgerüstete und ausgebildete Armee. Man beutete aber die Leute nicht bis aufs Blut aus, sondern bürgerte sie ein und band sie ins öffentliche Leben ein. Das riesige Römische Reich wurde von einem winzigen Verwaltungsapparat gesteuert. Ich denke, diese absolut perfekte Organisation war ein weiterer Schlüssel zum Erfolg.

Die gefundenen Inschriften erzählen von einer Zeit, in der die heutige Schweiz komplett Teil des Römischen Reiches war – fast fünfhundert Jahre lang.

Bis wann war die Schweiz römisch?
Das «offizielle» Datum des Truppenabzugs von der Rheingrenze ist der Winter 401/402 nach Christus. Der damalige Oberkommandierende, der Germane Flavius Stilicho, schickte die Truppen vom Rhein zurück nach Italien, um es vor Einfällen zu schützen. Die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen brachen aber erst später ab, und zwar beim Untergang des Weströmischen Reichs im Jahr 476 n. Chr.

Moment – ein Germane war römischer Offizier?
Ja. Die Beziehung zwischen Römern und Germanen war sehr ambivalent. Einige Germanen kämpften wie Stilicho im römischen Heer, andere bekämpften Rom und unternahmen immer wieder Raubzüge in das Gebiet der heutigen Schweiz. Der Rhein war also eine sehr durchlässige Grenze. Sehen Sie den Hertenberg dort drüben, gleich auf der anderen Flussseite? Dort lebte damals der germanische Kleinkönig Vadomar. Sehr viele der wohlhabenden Bewohner verliessen Augusta Raurica deshalb schon lange vor dem Abzug der römischen Truppen.

Noch heute kann man sich in Kaiseraugst viele Bauten Statuen der ehemaligen römischen Kolonie Augusta Raurica anschauen.

Wegen der konstanten Bedrohung?
Genau. Sobald der Rhein im Winter gefror, konnte er von den Germanen problemlos überquert werden. Es kam zu Plünderungen, reiche Römer wurden als Geiseln genommen, um Lösegeld zu erpressen. Viele flohen deshalb in den Süden, nach Frankreich oder Italien. Hier wurde es ihnen zu unsicher.

Und was passierte nach dem Truppenabzug mit der Stadt?
Wir gehen davon aus, dass nur ein Teil der Truppen abgezogen ist – der Rest hat sich wohl einfach gesagt: «Wir bleiben jetzt hier mit unserer Familie.» Deshalb wurde Augusta Raurica nicht komplett geräumt, es gab bloss eine deutliche Bevölkerungsreduktion.

Auch nach dem Abzug der römischen Truppen blieb Augusta Raurica von grosser Bedeutung – wie das neu entdeckte Amphitheater beweist.

Wie römisch ist die Schweiz heute noch?
Das Erbe der Römer ist natürlich omnipräsent, auch wenn es sehr vielen Leuten gar nicht bewusst ist. In Teilen des Kantons Graubündens wird heute noch romanisch gesprochen. Viele unserer Ortsnamen haben eine lateinische Wurzel, zum Beispiel Lausanne (Lousonna), Basel (Basilia), Zürich (Turicum) oder Genf (Genava). Auch stützt sich die gesamte moderne Rechtsprechung auf die antiken Regeln. Mit den Römern sind auch viele unserer Nahrungsmittel wie Walnuss, Knoblauch, Granatapfel oder die Weinrebe in unsere Gegend gekommen.

Die Weinrebe? Die verdanken wir den Römern?
Ja, hier wurde bereits damals Wein angebaut, wenn auch nicht im gleichen Ausmass wie in der Vesuvgegend. Dazu kamen auch verschiedene Obstsorten, zum Beispiel Kirschen. Die Landwirtschaft spielte eine grosse Rolle. In der Schweiz sind sehr viele römische Gutshöfe entdeckt worden, man kann sie teils auch anschauen. Wir sind gerade dabei, sie alle zu kartieren – die Karte ist voller roter Punkte.

Und bald werden die Karten auch mit dem neuen Amphitheater ergänzt.
Richtig.

Mittlerweile ist das Amphitheater wieder zugeschüttet worden, das Bootshaus wird trotzdem darauf gebaut. Der beste Schutz für ein Antikes Bauwerk, sagt Schwarz.

Die Ruine wurde mittlerweile wieder zugeschüttet, das Bootshaus wird trotzdem darauf gebaut. Könnte man es nicht freilegen und der Öffentlichkeit zeigen?
Der beste Schutz für ein antikes Bauwerk ist, wenn es im Boden bleibt. Sobald es freigelegt ist, beginnen seine Mauern zu bröckeln. Es muss dann konserviert und regelmässig saniert werden – das ist enorm teuer.

Finden Sie das schade?
Es wäre natürlich schön, das Amphitheater sichtbar zu machen. Doch freue ich mich auch über das neue Bootshaus – ich bin nämlich Mitglied des Basler Ruderklubs und der Basler Boothausgesellschaft, dem es gehört. Und wenn das Bootshaus in 100 Jahren einmal abgerissen wird, liegt das Amphitheater noch immer unter der Erde. Bereit, um ausgegraben zu werden.

Ein Leben für die Vergangenheit

Peter-Andrew Schwarz (61) ist ein US-stämmiger Schweizer Archäologe. Er studierte an der Universität Basel Archäologie. Fast zehn Jahre lang war er danach Leiter der Abteilung Ausgrabungen in Augusta Raurica in Kaiseraugst AG. Bis 2002 war er als Kantonsarchäologe Leiter des Amts für Archäologische Bodenforschung Basel-Stadt. Ab 2006 unterrichtete er an den Universitäten Passau, Basel, Zürich und Bern. Seit 2010 ist Schwarz Inhaber der Vindonissa-Professur für Archäologie der Römischen Provinzen an der Universität Basel.

Lea Ernst

Peter-Andrew Schwarz (61) ist ein US-stämmiger Schweizer Archäologe. Er studierte an der Universität Basel Archäologie. Fast zehn Jahre lang war er danach Leiter der Abteilung Ausgrabungen in Augusta Raurica in Kaiseraugst AG. Bis 2002 war er als Kantonsarchäologe Leiter des Amts für Archäologische Bodenforschung Basel-Stadt. Ab 2006 unterrichtete er an den Universitäten Passau, Basel, Zürich und Bern. Seit 2010 ist Schwarz Inhaber der Vindonissa-Professur für Archäologie der Römischen Provinzen an der Universität Basel.

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