«Ich will meinen eigenen Hof aufbauen»
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Tatja (19) aus Georgien:«Ich will meinen eigenen Hof aufbauen»

Neue Schule revolutioniert Landwirtschaft
Schweizer Kühe für Georgien

Tatja ist 19 und aus einer abgelegenen georgischen Bergregion. Sie macht ein Praktikum auf einem Bauernhof auf der Lenzerheide. Zusammen mit anderen jungen Menschen soll sie den Agrarsektor im Land vorantreiben. Die Schweiz unterstützt Georgien dabei.
Publiziert: 01.11.2022 um 11:23 Uhr
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Aktualisiert: 02.11.2022 um 16:33 Uhr
Jana Giger

Das Gras ist noch feucht von der Nacht, und die kühle Bergluft kündigt an diesem Donnerstagmorgen auf der Lenzerheide GR den Herbst an. Das Läuten der Kuhglocken vermischt sich mit dem rauschenden Bach neben der Weide. Tatja Murghuev (19) nähert sich mit langsamen, aber bestimmten Schritten der Kuhherde. Einige Tiere springen davon, drei bleiben stehen, während Tatja ihren Arm hebt und eine Kuh am Bauch streichelt. Sie spricht dem Tier ruhig zu und geht in die Knie. Dann nimmt sie eine Zitze des Euters in die Hand und presst sie wie beim Melken zusammen. «Das Gewebe fühlt sich weich an», sagt sie. Verhärtungen könnten auf eine Entzündung hindeuten und die Kuh würde Medikamente benötigen.

Tatja stammt aus Georgien. Sie ist in Chalisopeli aufgewachsen, einem Dorf in einer der abgelegensten Bergregionen im Nordosten des Landes. Der Ort ist ausgestorben, weil die meisten Einwohner in die Stadt ziehen, sobald sie alt genug sind. Das Tal ist in sattgrüne Hügel gebettet und von hohen Bergen umgeben. Ihre Familie besitzt einen Hof mit Kühen, Ziegen, Pferden und Hühnern. Sie betreiben Ackerbau und stellen für den Eigengebrauch Käse her. Mit ihren Maschinen können sie keine grossen Mengen produzieren. Obwohl die Hälfte der Bevölkerung in Georgien in der Landwirtschaft tätig ist, führen die meisten Bauern nur kleine Betriebe, die der Selbstversorgung dienen. Es fehlt an Fachwissen und Qualität. Deswegen ist Tatja auf dem Bauernhof auf der Lenzerheide.

In der Schweiz lernt sie, was es braucht, damit sich ein Hof wirtschaftlich lohnt. Sie wohnt für eine Woche bei Domenico und Rebeca Margreth (beide 31). Das Paar führt einen Betrieb mit 20 Milchkühen, zehn Kälbern sowie 600 Legehennen und drei Pferden. «Ich hoffe, dass ich bei ihnen so viel wie möglich lernen kann, um es zu Hause umzusetzen», sagt Tatja. Bereits der Umgang mit den Kühen ist anders, bemerkt die 19-Jährige: «In Georgien behandeln die Bauern ihre Tiere sehr schlecht, sie kümmern sich wenig um deren Gesundheit.» Bei Domenico und Rebeca habe sie sofort gespürt, dass die beiden ihre Tiere sehr schätzen.

Tatja Murghuev (19) macht in Georgien an einer Landwirtschaftsschule eine Ausbildung zur Bäuerin und ist für eine Woche in der Schweiz.
Foto: Philippe Rossier
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Schweizer Wissen in Georgien

Tatjas Kollegen Shotiko, Lela, Sandro und vier weitere Jugendliche zwischen 18 und 30 Jahren sind auf anderen Höfen in Graubünden verteilt. Zu Hause besuchen sie die Swiss Agricultural School Caucasus, um Bäuerin und Bauer zu werden. Die Schule wurde vergangenes Jahr in Sarkineti, einem Dorf im Süden von Georgien, eröffnet. Das Ziel: jungen Leuten aus Georgien das Handwerk der Schweizer Landwirtschaft beizubringen und ihnen eine praxisnahe Ausbildung zu ermöglichen.

Die Caucasus-Schule hat ein Gebäude mit Klassenzimmern, wo die Jugendlichen Theorieunterricht bekommen. Fast noch wichtiger sind der Stall, die Melkstation, das Feld für Ackerbau sowie die Käserei und die Maschinen, die auf Schweizer Technologie basieren. Eine Herde aus 30 Braunvieh-Kühen aus der Schweiz grast auf der Weide, die ebenfalls zur Schule gehört. Im November 2021 haben Tatja und ihre Mitschüler als erster Jahrgang die zweijährige Ausbildung begonnen. Sie kann sich ein Leben ohne Tiere nicht vorstellen: «Mein Traum ist es, irgendwann meinen eigenen Hof zu haben und später vielleicht eine Ausbildung zur Tierärztin zu machen.»

Dass die Landwirtschaft in Georgien mit Schweizer Know-how vorangetrieben wird, ist einem Mann zu verdanken: Mikho Svimonishvili (46), dem ehemaligen Landwirtschaftsminister von Georgien. Er hat in der Schweiz studiert und später während eines beruflichen Aufenthalts die Landwirtschaftsschule Plantahof in Landquart GR besucht – eine der grössten Berufsschulen für Bauern in der Schweiz, die jedes Jahr mehrere Hundert Landwirte aus- und weiterbildet. Svimonishvili war beeindruckt. «Als ich diese Schule gesehen habe, war für mich sofort klar, dass auch mein Land eine solche Ausbildungsstätte braucht», sagt er. Die Vision liess ihn nicht mehr los. Nach seiner Politkarriere hat er sich jahrelang für das Projekt eingesetzt. Als seine Idee von der Gebert-Rüf-Stiftung, die Projekte zum Nutzen der Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft fördert, sowie der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit finanzielle Unterstützung bekam, konnte die Landwirtschaftsschule nach Vorbild des Plantahofs gebaut werden.

«Die Tiere geben einem ganz viel zurück»

Auf der Lenzerheide wandert die Sonne immer höher über die Bergspitzen. Ihre Wärme verdrängt die kühle Morgenluft. Nachdem Tatja bei den Kühen auf der Weide die Euter kontrolliert hat, geht es zurück in den Stall zu den Legehennen. Sie klopft vorsichtig an die Tür, um die Hühner nicht zu erschrecken. Sofort fängt es dahinter laut zu gackern an. Langsam betritt Tatja den Stall. Im Nu ist sie von einem Meer aus hellbraunen Federn umgeben. Sie nimmt ein Huhn auf den Arm und schmiegt ihren Kopf an dessen Hals, als würde sie eine Katze halten. Nach der Kuscheleinheit streut Tatja Heu auf den Boden, damit dieser trocken bleibt. «Wenn man die Tiere gut behandelt, geben sie einem ganz viel zurück», sagt sie. Auf die Frage, was sie auf dem Hof anstrengend findet, reagiert sie mit einem Lachen und sagt: «Nichts.» Auch das frühe Aufstehen jeden Tag ist für sie selbstverständlich. «Ich könnte niemals ausschlafen, wenn ich weiss, dass die Kühe oder Hühner Hunger haben.»

In Georgien haben nicht alle Jugendlichen eine so starke Bindung zu Tieren und der Landwirtschaft wie Tatja. Laut Svimonishvili machen rund 80 Prozent der Jungen ein Studium, die Berufsbildung gilt als zweitrangig. Diese Haltung stamme noch aus der Zeit, als Georgien zur Sowjetunion gehörte. «Die Caucasus-Schule hat das Potenzial, die Einstellung der jungen Leute zu revolutionieren», sagt Svimonishvili. «Ich will zeigen, dass auch eine Berufsbildung gute Karrieremöglichkeiten bietet.» Sein Ziel sei es, in den kommenden zehn Jahren an der Landwirtschaftsschule etwa 100 Leute auszubilden. Davon könnten manche als Lehrmeister tätig sein und das Wissen an die nächste Generation weitergeben.

«Es ist schön, gebraucht zu werden»

Georgien sei auf die Unterstützung der Schweiz angewiesen, sagt der Ex-Politiker. «Die jungen Bauern müssen verstehen, wie wichtig die hygienische und qualitativ hochstehende Produktion von Milch und Käse ist.» Zudem sollen sie von der Schweizer Arbeitskultur lernen. Dabei übernimmt Carl Brandenburger (70) eine wichtige Rolle. Er war lange als Lehrer auf dem Plantahof tätig. Jetzt ist er in Rente und hilft mit, die Lehrpläne für die Caucasus-Schule zu erstellen. Es sei schön, gebraucht zu werden: «Als ich das erste Mal in Georgien war und die Herzlichkeit der Leute erlebt habe, konnte ich gar nicht anders, als mich für dieses Projekt einzusetzen.» Brandenburger reist alle paar Monate nach Sarkineti. Weil die Dozenten der Landwirtschaftsschule meist von der Uni kommen, hilft er ihnen, das Wissen den Schülern praktisch und verständlich zu vermitteln. Im Stall kontrolliert er, ob die Maschinen intakt sind, und auf dem Feld zeigt er den Lernenden, wie sie die Weide einzäunen.

Im November vergangenen Jahres hat er nach der Eröffnung die allerersten Lektionen an der Schule gegeben. «Auf einem Tisch habe ich Futter und daneben einen Haufen Abfall platziert», sagt er. «Dann habe ich den Schülern erklärt, dass die Aludosen und Plastikverpackungen, die hier überall herumliegen, die Tiere krank machen.» Auf dem Weg zu den Tieren nach dem Unterricht hätten einige Schüler angefangen, Abfall einzusammeln. «Innerhalb einer Woche war alles sauber», sagt Brandenburger. Obwohl nicht die Schüler, sondern die Arbeiter den Abfall zurückgelassen hätten, sei es wichtig, den Jugendlichen beizubringen, was eine gesunde Umgebung für die Tiere auf dem Hof bedeute. Erst danach könne er ihnen zeigen, wie eine Melkmaschine funktioniere.

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