Interview mit Fachmann für sexuelle Gesundheit
Wie sinnvoll ist es, Schnäggli statt Vulva zu sagen?

Was können Eltern tun, damit ihre Töchter und Söhne einen guten Umgang mit Sexualität entwickeln? Professor Daniel Kunz, Fachmann für sexuelle Gesundheit an der Hochschule Luzern, gibt dazu Tipps und Anregungen.
Publiziert: 04.05.2022 um 10:52 Uhr
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Aktualisiert: 09.06.2023 um 14:37 Uhr
Jonas Dreyfus

Herr Kunz, was können Eltern dafür tun, damit ihre Kinder einen guten Umgang mit Sexualität entwickeln?
Es ist sicher förderlich, als Mutter oder Vater teilzuhaben am Leben der Tochter oder des Sohnes. Wer fragt, wie es den Kollegen geht, der wird sich eines Tages auch nach der ersten Freundin oder dem ersten Freund erkundigen, ohne dass es erzwungen wirkt. Dann stellt man vielleicht auch kritische Fragen wie: «Bist du sicher, dass du ihn gern hast?»

Braucht es ein Gespräch unter vier Augen?
Nicht unbedingt. Der grösste Teil der sexuellen Sozialisation geschieht beiläufig. Wichtig ist, zu signalisieren: Wenn du Fragen hast, bin ich für dich da.

Wie ist das beim Thema Verhütung?
Töchter werden meistens proaktiv und prophylaktisch von ihren Müttern darüber aufgeklärt, dass sie schwanger werden können. Bei Söhnen ist das eher situativ, wenn sie erstmals eine Freundin haben. «Bring mir dann aber kein Kind nach Hause» – solche Sprüche sind verbreitet. Man könnte aber auch einfach sagen: «Denkst du an Verhütung? Es liegt in deinen Händen.»

Der Klassiker unter den Aufklärungsbüchern für Eltern und Kinder: «Peter, Ida und Minimum» von Grethe Fagerström.
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Fachmann für Sexualaufklärung

Daniel Kunz ist Professor am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern mit Schwerpunkt sexuelle Gesundheit. Der Fachbereich beschäftigt sich mit der sozialen und psychischen Komponente von Sexualität. Dazu gehört auch die Sexualaufklärung in Institutionen wie Schulen und im privaten Bereich.

Daniel Kunz ist Professor am Institut für Sozialpädagogik und Bildung der Hochschule Luzern mit Schwerpunkt sexuelle Gesundheit. Der Fachbereich beschäftigt sich mit der sozialen und psychischen Komponente von Sexualität. Dazu gehört auch die Sexualaufklärung in Institutionen wie Schulen und im privaten Bereich.

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Zu welchem Zeitpunkt muss ein Kind welche Aspekte der Sexualität kennen?
Bei kleinen Kindern kommt es auf die Situation an. Bei ihnen dient Aufklärung in erster Linie dazu, Phänomene wie den wachsenden Babybauch der Mutter zu erklären. Vielleicht sieht ein Kind auch mal, wie sich zwei Personen küssen, und möchte wissen, warum sie das tun. Oder ein Mädchen bemerkt, dass Buben keine Vulva haben, sondern einen Penis und fragt nach. Wenn kleine Kinder Fragen haben, sollen ihre Fragen kindgerecht beantwortet werden.

Und bei Jugendlichen?
Sie wünschen sich von ihren Eltern Einordnung und Orientierung, wollen zum Beispiel wissen, wie Mutter und Vater sich kennengelernt haben und was sie unter einer guten Beziehung verstehen. Auch Sexualität, wie Medien sie darstellen, kann zum Anlass für Gespräche zwischen Eltern und Jugendlichen werden. Eltern sollten ihre Sichtweisen auf diese Themen ehrlich kommunizieren – in einer Sprache, die die Jugendlichen verstehen. Bei jüngeren Kindern darf das ruhig etwas spielerischer und malerischer sein.

Haben Sie dazu ein Beispiel?
Pornografie ist heute relativ einfach zugänglich. Es kommt immer wieder vor, dass kleine Kinder Dinge sehen, die nicht für ihre Augen bestimmt sind. Je jünger ein Kind ist, desto knapper und einfacher würde ich das erklären. Wenn ein Kind zum Beispiel fragt, «Warum hat die Frau so geschrien?», könnte man antworten: «Weil der Mann sich auf sie gesetzt hat.» Wenn ein Kind die Eltern bei einer sexuellen Handlung sieht, was versehentlich vorkommen kann, können sie sagen: Mama und Papa haben sich gern gehabt. Meistens ist das Interesse dann schon gestillt.

Man darf also schummeln?
Das Wichtigste ist, die Natur der Frage zu erkennen, die ein Kind stellt. Ein kleines Kind hat kein Interesse, dass man ihm die Mechanismen eines Porno-Drehs erklärt oder ihm eine Biologiestunde zum Thema Fortpflanzung gibt. Das interessiert es nicht, und es wäre komplett damit überfordert.

Es gibt Kinder, die haben ihre Eltern noch nie nackt gesehen. Ist das gut oder schlecht?
Ich denke, jeder Erwachsene sollte das so handhaben, dass er sich dabei wohlfühlt. Wenn jemand ab und zu mal nackt durch die Wohnung geht, muss er nicht damit aufhören, sobald er Kinder hat. Er muss es aber auch nicht tun, weil er das Gefühl hat, das vermittle dem Kind später einmal einen lockeren Umgang mit dem eigenen Körper. Irgendwann kommt sowieso das Alter, in dem die Kinder ihre Eltern auf keinen Fall mehr nackt sehen wollen. Das muss man dann auch respektieren.

Wie sinnvoll ist es, statt Penis und Vulva Bezeichnungen wie Schnäbi und Schnäggli zu verwenden?
Solche Bezeichnungen sind absolut okay und zeichnen eine Familie als soziale Gruppe aus. Ich würde aber empfehlen, irgendwann klarzumachen, dass Schnäbi auch Penis und Schnäggli auch Vulva genannt werden. Dann wissen die Kinder, was gemeint ist, wenn ihnen das erste Mal eine Fachperson etwas zum Thema Sexualität erklärt. Das kann bereits im Kindergarten sein. Kinderschutz Schweiz bietet auf dieser Stufe seit neustem Programme zur Prävention von sexueller Gewalt an.

Was können Eltern ihrem Kind beibringen, damit sie sich gegen sexuelle Übergriffe schützen können?
Es ist wichtig, den Kindern mitzugeben, dass es Körperstellen gibt, die nur sie selbst berühren dürfen, oder – bei kleinen Kindern, die gewickelt oder gewaschen werden müssen – die Eltern. Respektive ein Arzt, wenn das für eine medizinische Untersuchung nötig ist. Es gehört zur Aufklärung, dass man diese Stellen dann genau benennt und nicht einfach etwas sagt wie: «Das Loch dort unten.»

Gelten diese Regeln auch für die sogenannten Doktorspiele?
Wenn gleichaltrige Kinder sich beim Spielen an den Geschlechtsteilen berühren, sehe ich darin kein Problem. Ab vier, fünf Jahren beginnen Kinder, mit Spielen die Welt und auch gegenseitig ihren Körper zu entdecken. Im Vergleich zu Erwachsenen hat das aber noch gar nichts mit Begehren und Begehrtwerden zu tun. Deshalb kann es auch vorkommen, dass kleine Kinder sich an einem Kissen oder an einer Bettkante reiben, selbst wenn Besuch da ist.

Wie reagiert man da?
Man kann es darauf hinweisen, dass es das in seinem Zimmer machen soll, wo es allein ist.

Kann man Aufklärung auch delegieren, wenn es einem zu unangenehm ist?
Das ist sicher besser, wie wenn man sich gar nicht darum bemüht. In traditionellen Familien mit autoritärem Erziehungsstil kommt es öfters vor, dass die älteren Geschwister, die Gotte oder der Götti diese Aufgabe übernehmen, weil die Beziehung der Eltern zu den Kindern zu distanziert ist. Wer sich unsicher fühlt, wenn Kinder Fragen zu Körper, Geschlecht und Beziehungen stellen, kann auch auf zahlreiche Kinderbücher zurückgreifen.


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