So brutal wütet Omikron in der Schweiz
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56 % Omikron-Fälle:So brutal wütet Omikron in der Schweiz

Nebenwirkung der Pandemie
Leise rieselt das Haar

Warum wir in der heutigen Zeit nicht nur im übertragenen Sinne Haare lassen.
Publiziert: 02.01.2022 um 13:52 Uhr
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Aktualisiert: 02.01.2022 um 15:03 Uhr
Silvia Tschui

Es ist, um es unschön auszudrücken, zum Haarölseichen: Auf dem Kopfkissen jeden Morgen die dünnfädigen Dinger, an den Armen hat man ständig so ein unangenehmes Spinnwebengefühl, man zieht sie aus der Suppe, aus der selbst gebackenen Wähe, und auf dem Boden bilden sich jeden Tag von neuem in den Ecken Schleier, so oft man auch staubsaugt. Und vom Wehklagen unter Dusche gar nicht zu reden. Die Rede, Sie habens längst gemerkt, ist von Haarausfall. Und der ist gerade eine Epidemie: Links und rechts scheint sich die Pracht und Zier manchen Hauptes von Schädeln zu lösen, um heimlich fortzuschweben und an den unangenehmsten Orten wieder aufzutauchen. Und oben lichtet es sich, und man steht selbst vor dem Spiegel, begutachtet die helle Linie des Scheitels, die wirklich, unzweifelhaft, doch, bestimmt, schon mal sehr viel schmaler war, und denkt: Mann. Respektive: Frau. Wann das so weitergeht, bin ich spätestens übermorgen kahl.

Frauenglatze. Horror

Es würde einem die Haare sträuben, wenn man sie denn noch hätte: Schon Samson war erledigt, als ihm seine Haarpracht abhandenkam, für Frauen, für die in unserer Gesellschaft gutes Aussehen eine Währung ist, aufgrund der sie beurteilt werden, ist es doppelt bitter. So bitter, dass eine ganze Industrie um Haarpflegeprodukte in der Schweiz jährlich über 200 Millionen Franken Umsatz macht.

Auch das Geschäft mit Haartransplantationen, die hierzulande immerhin rund zehntausend Franken pro Kopf kosten, boomt seit einigen Jahren ungemein (Blick berichtete). Und es gibt eine ganze Industrie – neben seriösen dermatologischen Behandlungen ziehen leider diverse Hersteller von dubiosen Haarwässerli oder Nahrungsergänzungsmitteln den Menschen das Geld aus der Tasche. Die nützen oft gar nichts oder höchstenfalls als Placebo, kosten dafür aber umso mehr.

Es gibt tatsächlich Mittel, die gegen Haarausfall helfen.
Foto: Getty Images
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Haare spiegeln die Gesundheit

Es ist keine Haarspalterei, zu behaupten, dass uns die Haare vom Kopf fallen, wie Thomas Kündig bestätigt. Der Immunologe und Professor für Immundermatologie ist Direktor der Dermatologischen Klinik am Universitätsspital Zürich und Leiter der dazugehörigen Forschungsabteilung. Unser Haar zeige uns ziemlich genau, wie es in unserem Körper aussieht – einfach still, leise und zeitverzögert.

So kann nur schon Stress dazu führen, dass der Körper Haare abstösst. Und in Pandemiezeiten sind nun mal so ziemlich alle gestresst. Ausserdem könnte es sein, sollten Ihnen in den letzten Monaten die Haare strähnenweise ausgegangen sein, dass Sie eine Covid-Infektion durchgemacht haben, im besten Fall, ohne es gross zu merken. Dass Ihr Immunsystem trotzdem stark belastet war, merkt man dann an einem spezifischen Haarausfall, den die Fachwelt «telogenes Effluvium» nennt. Mit Fluffigkeit hat das nicht viel zu tun, telogen bezieht sich auf die Ruhephase des Haarwachstums, Effluvium bedeutet so viel wie «unsichtbares Aus- oder Abstossen» von etwas. Bei telogenem Effluvium, auch verständnisfreundlicher «diffuser Haarausfall» genannt, hört der Körper auf, einige Haarfollikel zu versorgen – «ungefähr zwei bis drei Monate später gibt das Haar dann ganz den Geist auf und fällt aus», sagt Kündig salopp. Auch nach einer Grippe kann dies vorkommen, nach höherem Fieber, da Fieber den Haarwurzeln schadet. Oder nach einer Operation, da der Körper vermehrt Ressourcen zur Heilung braucht. Der Haarverlust dauert in der Regel vier bis sechs Monate an.

Fällt das Haar länger als sechs Monate lang aus, ist wohl keine Infektion schuld

Anscheinend sind aktuell so einige betroffen: Google-Anfragen zum Begriff «hair loss» zeigen seit Beginn der Pandemie global gesehen einen Aufwärtstrend. Die gute Nachricht ist aber: «In der Regel hört telogenes Effluvium nach ein paar Wochen oder Monaten wieder auf, und neue Härchen wachsen nach», sagt Kündig. Das einzige Problem liegt dann darin, dass man monatelang eine Art Heiligenschein von kurzen, langsam länger werdenden Einzelhärchen hat, die unschön vom Kopf abstehen und für eine durchaus haarsträubend doofe Frisurenphase sorgen. Klaubt man aber auch nach Monaten nach einer Infektion, einer OP oder sonst einem stressigen Erlebnis noch bei jeder Haarwäsche ganze Strähnen von Haaren aus dem Abfluss, liegt wahrscheinlich ein anderes Problem vor.

Foto: Shutterstock

Und da fängt die Suche nach dem Haar in der Suppe, Verzeihung, natürlich nach der Nadel im Heuhaufen dann an, sagt Kündig. Denn der möglichen Gründe für lang anhaltenden Haarausfall sind viele: Die Fachwelt unterscheidet zwischen zwei Sorten Haarausfall, dem sogenannten vernarbenden, bei dem der Haarfollikel unwiederbringlich zerstört wird, und dem nicht vernarbenden, bei dem das Haar in den allermeisten Fällen wieder nachwächst. Betroffen sind beide Geschlechter, wenn auch die Vollglatze, die bei vielen Männern hormonell bedingt ist, bei Frauen doch eher selten auftritt. Doch auch bei ihnen lichtet sich altersbedingt das Haar: «Wenn man im Tram steht und so von oben auf die ergrauten Schädel sitzender Menschen blickt, sieht man auch bei Frauen oft viel Kopfhaut», sagt Kündig.

Es gilt: Früh genug zum Arzt!

Der Kahlschlag ist aber vermeidbar: Kommt man früh genug zur Behandlung, kann die Dermatologie den meisten Menschen helfen. Erst wenn der Haarfollikel tot ist, hat man endgültig Haare gelassen – vorher kann man einiges tun. Bei den vernarbenden Haarausfällen sind Autoimmunerkrankungen wie Lupus oder der sogenannte Lichen ruber, auch Knötchenflechte genannt, die Ursache. Eine frühe Erkennung und Behandlung kann helfen oder den Krankheitsverlauf und damit auch den Haarausfall in vielen Fällen zumindest verzögern.

Aber auch bei nicht vernarbendem Haarausfall gibt es meistens Lösungen – auch wenn in Einzelfällen Haar sich hartnäckig weigern kann, erneut zu spriessen. Kreisrunder Haarausfall kann, muss aber nicht, in Einzelfällen schwierig zu behandeln sein. Andere Gründe für Haarverlust, wie etwa Chemotherapie, sind zum Glück nur temporär. Und die wirklich gute Nachricht ist, dass es für den häufigsten, nämlich den genetisch bedingten Haarausfall durchaus sehr gute Lösungen gibt, die für eine lange Zeit eine ziemlich dichte Mähne garantieren – wenn man früh genug eingreift.

Bei Männern schadet Testosteron insbesondere den empfindlichen Haarfollikeln, die sich auf dem Scheitel befinden. Kleine Nebenbemerkung: Die Haarfollikel auf den Seiten des Kopfs sind härter im Nehmen und verziehen sich wegen so ein bisschen Testosteron nicht gleich ins Nirgendwo. Deshalb funktionieren auch Haartransplantationen recht gut, erklärt Kündig: «Die stärkeren Follikel bleiben auch am neu verpflanzten Ort, also oben auf dem Kopf, stärker als die, die dort ursprünglich wuchsen.» Ob und wie empfindlich diese Follikel tatsächlich sind, ist genetisch bedingt. Generell gilt: Je mehr Testosteron, desto Glatze. Die Haare können im schlimmsten Fall bereits Anfang zwanzig auszufallen beginnen – androgenetische Alopezie nennt sich dies.

Es gibt Wunderwaffen gegen Haarausfall, die wirken

Ein Medikament, das unzweifelbar dagegen wirkt, ist Finasterid, oral eingenommen. Allerdings mehren sich aktuell insbesondere in den USA die Diskussionen, dass die Einnahme von Finasterid, das in den männlichen Hormonhaushalt eingreift, zu Erektionsstörungen und Depressionen führen könnte, die sogar fortbestehen, wenn das Medikament abgesetzt wird. «Wir sind deshalb mit dem Medikament sehr zurückhaltend», sagt Kündig.

Zum Haareraufen ist das trotzdem nicht. Es gibt nämlich eine zweite, völlig zufällig entdeckte Wunderwaffe gegen Glatzen: Minoxidil. Und die hat auf des Mannes bestes Stück nach aktuellem Wissensstand keinen Einfluss. Der Wirkstoff wurde in den 1970er-Jahren eigentlich als blutdrucksenkendes Mittel entwickelt und erfolgreich so verschrieben. Eher zufälligerweise bemerkten Forscher in der Folge, dass behandelte Patienten plötzlich auffällig haarig wurden – sowohl auf dem Kopf als auch am Körper.

Da aber niemand, der auch noch so froh um erneutes Spriessen auf dem Schädel ist, gern zum Gorilla mutiert, wurden flugs Tests in Auftrag gegeben, ob das Medikament auch äusserlich lokal angewendet als Haarwuchsmittel funktioniert. Resultat: Tut es, wenn auch noch niemand genau herausgefunden hat, weshalb. Solange der Haarfollikel nicht ganz tot ist, kommt er durch regelmässiges Beträufeln wieder zu Kräften. Der einzige Nachteil: Die schwächelnden Follikel sind fortan lebenslang auf das «Doping» angewiesen. Hört man mit der Behandlung auf, fällt das Haar nach ungefähr einem Monat wieder aus.

Auch Frauenglatzen sind meist vermeidbar

Unter androgenetischer Alopezie leiden auch Frauen – einfach nicht ganz so stark wie Männer. Doch über die Jahre lichtet sich auch bei vielen Damen der Bewuchs auf dem Scheitel – lange dachte man, das liege daran, dass nach den Wechseljahren wegen des Absinkens des Östrogen-Spiegels auch bei Frauen Testosteron in Bezug auf die Haarfollikel «aktiver» werde. Spätestens seit es Ersatzhormontherapien für Frauen gibt, weiss man aber: Dem ist nicht so. Man kann Hormone ersetzen, wie man will, die Haarpracht verdünnisiert sich trotzdem still und leise, aus bis heute ungeklärten Gründen. Aber auch die Damenwelt kann aufatmen: Auch für sie wirkt Minoxidil. Einziges Problem: Bei einem kleinen Prozentsatz wirkt es so gut, dass Betroffene gleichzeitig in Wachsstreifen oder eine Lasertherapie investieren müssen, um den mit dem erneut zu wallen beginnenden Haupthaar auch den frisch spriessenden Damenschnurrbart unter Kontrolle zu halten – so gut wirkt der Blutdrucksenker.

Dass nicht mehr Menschen vom Zaubermittel wissen, hat übrigens mit unserem Gesetz zu tun, erklärt Kündig: «Unsere Gesetzgebung verbietet Werbung für Medikamente. Das führt paradoxerweise dazu, dass jeder Hersteller unzählige Pülverli und Wässerli ohne bewiesene Wirksamkeit als kosmetisches Produkt für «stärkeres» oder «schöneres» Haar anpreisen kann – und Medikamente mit erwiesenen Wirkstoffen nicht so lauthals beworben werden dürfen bzw. die Patienten erst davon erfahren, wenn sie zum Arzt gehen.» Oft sei es dann leider schon zu spät.

Fazit: Wenn die Strähnen den Dusch- oder Badewannenabfluss verstopfen, lohnt es sich nicht zu warten. Es lohnt sich auch nicht zu verzagen und sich gleich schon das Leben mit Vollglatze vorzustellen oder anzufangen, auf eine teure Echthaarperücke zu sparen – sondern: Was sich tatsächlich lohnt, ist ein Besuch beim Dermatologen. Und wenn das teure Medikament von der Krankenkasse nicht bezahlt wird, dann lohnt sich folgender Geheimtipp: Viele Apotheken mischen das Mittel auf Anfrage günstiger selbst.


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