Fünf Tipps für eine ausgeglichene Digital-Life-Balance
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Expertin Anna Miller erklärt:Fünf Tipps für eine ausgeglichene Digital-Life-Balance

Ratgeber-Autorin Anna Miller
«Wir sind kaputt-konsumiert von digitalen Pendenzen und Eindrücken»

Was bedeutet es, Mensch zu sein in immer digitaleren Zeiten? Diese Frage treibt Autorin Anna Miller um. Für sie steht fest: Kaum jemandem gelingt heute die digitale Balance.
Publiziert: 26.02.2023 um 11:19 Uhr
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Jugendliche sitzen im Park und quatschen. Nicht der Rede wert? Bei genauerem Hinsehen offenbar doch: Die «New York Times» widmete Ende 2022 einer Gruppe von Teenagern einen Artikel von 12'000 Zeichen. Die Jugendlichen treffen sich wöchentlich sonntags im Prospect Park im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Sie zeichnen, lesen Bücher, unterhalten sich, hören den Vögeln zu. Ihre Handys bleiben weggesteckt. Viele von ihnen besitzen kein Smartphone, sondern nur ein Klapphandy ohne Internetzugang.

Die Gruppe nennt sich «The Luddites» und erweist mit diesem Namen Ned Ludd die Ehre, der Anfang des 19. Jahrhunderts eine Arbeiterbewegung gegen die Industrialisierung anführte. Die Jugendlichen propagieren einen Lifestyle, der befreit ist von sozialen Medien und Technologie.

Physisch da, geistig anderswo

«Wir sind alle schon lange an diesem Punkt, an dem wir uns Gedanken über unsere digitale Balance machen sollten», sagt Anna Miller (35). «Die Verbundenheit, die wir im Digitalen gesucht und gefunden haben, hat sich so weit verschoben, dass wir immer mehr Probleme haben, Verbundenheit mit uns selbst und dem herzustellen, was gerade um uns herum ist.» Die Schweizer Journalistin beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema digitale Balance und hat diese Woche einen Ratgeber dazu veröffentlicht.

Ein exotisches Bild: Handyfreies Treffen unter Teenagern. Die «New York Times» widmete dieser Gruppe von Jugendlichen, die sozialen Medien abgeschworen haben, einen langen Artikel.
Foto: Scott Rossi/The New York Times/R
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Ratgeber zu digitaler Balance

Anna Miller: «Verbunden. Wie du in digitalen Zeiten Platz schaffst für Dinge, die dir wirklich wichtig sind», Ullstein Taschenbuch 2023, 368 Seiten.

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Anna Miller: «Verbunden. Wie du in digitalen Zeiten Platz schaffst für Dinge, die dir wirklich wichtig sind», Ullstein Taschenbuch 2023, 368 Seiten.

Falsch verbunden also. Wer auf der Strasse, dem Perron oder im Café um sich schaut, sieht, was sie meint: Wir sind physisch da, aber emotional und geistig anderswo, aufgeschreckt durch eine Push-Meldung, versunken in einen Podcast, abgelenkt durch eine eingehende Nachricht.

Und dann braucht Anna Miller in diesem Whatsapp-Anruf zwischen der Schweiz und Australien, wo sie sich gerade aufhält, einen Ausdruck, der nachhallt: kaputt-konsumiert. «Wir sind kaputt-konsumiert von diesen ganzen digitalen Pendenzen und Eindrücken. Viele sind müde. Erloschen.»

Anna Miller lehnt Digitales nicht ab; sie war als freie Journalistin stets erreichbar und wusste soziale Medien geschickt zu nutzen. Irgendwann nahm sie wahr, dass sie ihr ganzes Leben auf eine digitale Performance ausgerichtet hatte, wie sie am Telefon erzählt. Dass sie abhängig war von emotionaler Bestätigung über soziale Medien. «Diese Anerkennung war wie ein Rausch, liess mich aber schnell auch in ein Loch fallen. Privat fühlte ich mich nicht ebenso wertvoll und unterstützt», sagt sie.

Digital auf Diät gehen

Logan Lane, Gründerin der New Yorker «Luddites», war es gleich ergangen. Sie hatte erkannt, dass soziale Medien sie im Griff hatten statt umgekehrt. Als Erstes löschte sie Instagram. Dann steckte sie ihr iPhone in eine Kiste, später «verlor» sie es. Ein radikaler Schritt der Schülerin, die sich bewusst ist, dass sie ihre digitale Enthaltsamkeit mit den näher rückenden Pflichten eines erwachsenen Lebens wohl nicht wird vereinbaren können.

Für Anna Miller ist nicht digitale Abstinenz das Ziel. «Es geht nicht darum, ob man für oder gegen die Digitalisierung ist. Die Welt wird immer digitaler, darüber müssen wir nicht diskutieren», sagt sie. Doch das Handy sei für alle eine potenzielle, riesige Stressquelle geworden.

Das Smartphone, dieses nur handgrosse Gerät, vereint in sich so viel Gutes, aber auch Belastendes. Es sorgt – beispielsweise bei einem Video-Anruf mit einer Freundin – ebenso für grosse Nähe und Verbundenheit wie für Stress und unruhige Nächte, wenn wir etwa kurz vor dem Schlafengehen per Mail einen herausfordernden Auftrag erhalten oder negative Kommentare unter einem eigenen Post in den sozialen Medien wahrnehmen. Ständig hinzukommende digitale Angebote und Möglichkeiten verlängern kontinuierlich unsere digitalen Pendenzenlisten. Fertig ist man nie. Das Internet lässt sich nicht zu Ende scrollen.

Platz schaffen für Wichtiges

Für Anna Miller, die einen Abschluss in Positiver Psychologie der University of East London hat, lautet die zentrale Frage: Was heisst es, Mensch zu sein in immer digitaleren Zeiten? Als Spezies haben wir uns nicht verändert, nur weil jetzt so vieles digital abläuft. Seit Jahrtausenden haben wir als Menschen die gleichen Bedürfnisse, die gleichen Hirnstrukturen. Wer am Morgen aufwacht und sich schlecht fühlt, weiss genau, was er bräuchte, sagt Anna Miller, nämlich Körperkontakt und Kontakt zur Natur.

«Verbunden» hat Anna Miller ihr Buch getauft. Sie zeigt darin, wie es gelingen kann, im eigenen Leben wieder Platz zu schaffen für Dinge, die einem wichtig sind. Wie man es schafft, der eigenen Bildschirmzeit Grenzen zu setzen.

Hinterfragen braucht Mut

Am Anfang des Buchs steht auf einer ansonsten leeren Seite der Satz: «Uns Mutigen gehört die Welt.» Ist mutig, wer sich digital achtsam verhält? «In unserer Gesellschaft leben wir mit dem Narrativ, dass alles einfacher wird mit Digitalisierung. Menschen, die das hinterfragen, gelten als Leute, die es nicht ganz verstanden haben», sagt Anna Miller. Das Gegenteil sei wahr. Doch es brauche Mut, sich menschlich zu zeigen und das eigene Empfinden nicht als Übersensibilität oder Überforderung abzutun, sondern als wahr anzuerkennen.

In New York sagen die «Luddites» mit Stolz: «Wir sind Aussenseiter.» Der Austausch untereinander über ihre Erfahrungen mit Social Media und darüber, was das «wahre Leben» ausmacht, verleiht ihnen aktivistischen Antrieb. Ähnliches erhofft sich Anna Miller. Wenn Menschen Bücher wie ihres lesen, erkennen sie sich wieder, fühlen sich bestärkt und suchen Gleichgesinnte. Sie beginnen vielleicht, das Thema politisch zu sehen.

Ein Thema für die ganze Gesellschaft

Denn auch das treibt die Journalistin um: «Digitale Balance ist nicht nur ein individualpsychologisches Thema, sondern ein Thema für die ganze Gesellschaft. Nur: Es findet bisher kaum eine Debatte darüber statt.» Sie ist der Ansicht, dass es Regulierungen durch Politik und Wirtschaft braucht. Es sei viel anspruchsvoller für ein Individuum, sich aus diesem digitalen Rhythmus herauszulösen, als wenn es neue Strukturen für eine Belegschaft eines Betriebs oder für die Gesamtgesellschaft gäbe.

Noch ist davon kaum etwas zu erkennen. Ein Beispiel sind jene Konzerne, die E-Mails ausserhalb der Bürozeiten gar nicht zustellen, um ihre Angestellten davon abzuhalten, zu Unzeiten ihren Posteingang abzurufen. Regulierungen könnten aber weit über das hinaus gehen. «Heute sind wir auch ständig online, weil alle anderen unablässig online sind», sagt Anna Miller und wagt ein Gedankenexperiment: «Was, wenn alle ausschliesslich am Montag Posts auf den sozialen Medien veröffentlichen würden?»

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