«Sie sind für uns Tibeter Kultur und Identität»
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Momos und ihre Bedeutung:«Sie sind für uns Tibeter Kultur und Identität»

Momo-Hype in der Schweiz – auch dank Tenzin Tibatsang
Momos für den Widerstand

Momos sind die tibetische Form von Teigtaschen. Innert weniger Jahre sind sie in der Schweiz vom Nischen- zum Massenprodukt geworden. Der Verkauf finanziert hierzulande Kultur und Protest der Tibeterinnen und Tibeter.
Publiziert: 29.10.2023 um 11:29 Uhr
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Aktualisiert: 31.10.2023 um 10:06 Uhr

Tenzin Tibatsang faltet Momos. Er wirkt nervös, schaut nach rechts. Dort, am Ende der Kücheninsel, stehen vier seiner 125 Angestellten und beobachten, wie der 33-Jährige die halbmondförmigen Teigtaschen mit Hackfleisch und Gewürzen füllt, sorgfältig verschliesst und sie in ein Dampfkörbchen aus Edelstahl legt. «Sie dürfen mir jetzt zuschauen, wie ich mich blamiere», sagt er mit einem Lächeln. Für sein Unternehmen habe er schon lange keine Teigtaschen mehr gefaltet. Die Zeiten, als seine «Tenz Momo» mit ihm allein Schweizer Festivals bereicherten, sind vorbei.

Einst stieg Tibatsang als Quereinsteiger ein, mit gemieteten Festbänken und einem Zelt aus dem Discounter. Heute besitzt er eine Restaurantkette mit neun Standorten. Bald sollen es elf sein. Hinzu kommt ein Produktionsbetrieb.

Tibetische Momos wurden in der Schweiz in den vergangenen Jahren zum beliebten Take-away-Gericht.
Foto: Thomas Meier
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Die Schweiz ist im Momo-Hype

An der Wand der Filiale am Bahnhof Winterthur ZH hängt hinter Turmlaternen ein Bild des Dalai Lama (88), daneben kleine tibetische Gebetsfahnen. Dazu kommen moderne Theken aus Holz und Glas, durchdachte Farben und einladende Beleuchtung. Seit vergangenem Jahr besitze seine Firma ein «übergreifendes Store Concept», wie Tibatsang stolz erzählt. Unter dem Unternehmenslogo prangt das Gründerjahr gemäss tibetischem Kalender: 2142 statt 2016.

Tenzin Tibatsang ist Gründer und Inhaber der grössten Momo-Kette der Schweiz.
Foto: Thomas Meier
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Es sind Elemente, die bei einem Gastro-Unternehmen rasch als Folklore oder Kitsch gelten. Bei Tenz sind sie Ausdruck der kulturellen Identität. Und sollen etwas lehren. «Sprechen uns Kunden etwa auf die Jahreszahl an, können wir ihnen einen Teil unserer Geschichte erzählen», sagt Tibatsang, der sich mit seinem Spitznamen Tenz vorstellt. Momos gehören zu seiner Lebensgeschichte. In den 1990er-Jahren flüchtete er mit seinen Eltern aus Tibet nach Indien, zur Jahrtausendwende kam er als Neunjähriger in die Schweiz. Er schloss hier die Schule ab, war Grafiker in einer Werbeagentur. Nun ist er der grösste Momo-Unternehmer des Landes.

In den Tenz-Filialen gehört das kulturelle Erbe Tibets zur Einrichtung.
Foto: Thomas Meier

Vor sieben Jahren gründete er Tenz Momo. Damals kannten Momos erst wenige. Tibetische Restaurants gab es nur vereinzelt, an Orten mit einer tibetischen Gemeinschaft. Er sei der Erste gewesen, der Momos in einem Gastro-Konzept umsetzte, sagt Tibatsang.

Mittlerweile erlebt die Schweiz einen Momo-Hype. Ob an Chilbis, Open Airs, Street-Food-Festivals oder an der Olma – die tibetischen Teigtaschen gibt es überall. Auf den Geschmack gekommen sind auch die SBB, die in ihren Bahnhöfen zukünftig vermehrt lokale Anbieter den Fast-Food-Konzernen und Detailhändlern vorziehen möchten. Vor kurzem eröffnete Tibatsang im Bahnhof Luzern sein neuntes Restaurant. Ende November folgen die Ableger zehn und elf in St. Gallen und in Zürich-Enge. Dort beerben sie Migros und Coop.

Mit den Flüchtlingen kamen die Teigtaschen

Es ist nicht überraschend, dass Momos ausgerechnet in der Schweiz zum Trend-Food wurden. Kein anderes westliches Land nahm vor rund 60 Jahren, nach dem Einmarsch Chinas in Tibet, so viele Tibeterinnen und Tibeter auf.

Ende der 1950er-Jahre schlugen chinesische Soldaten in der tibetischen Hauptstadt Lhasa einen Volksaufstand blutig nieder. Tausende flüchteten nach Indien und Nepal. Die Schweiz wollte helfen, berief sich auf ihre humanitäre Tradition. Es war die Zeit des Kalten Kriegs, und selbst die neutrale Eidgenossenschaft stellte sich damals gegen kommunistische Länder wie China. Bereits ein Jahr nach dem Aufstand kamen die ersten 20 Flüchtlinge im appenzellischen Trogen an.

Heute zählt die tibetische Diaspora in der Schweiz 8000 Menschen, in Europa ist nur jene in Frankreich grösser.

Foto: Linda Käsbohrer
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«Erst spät merkte ich, dass ich anders war als meine Schulfreundinnen.»
Tsering Gonpa
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Mit den Tibeterinnen und Tibetern kamen die Teigtaschen. Ob Shapale aus frittiertem Hefeteig, gefüllt mit Fleisch und Kohl, oder die leichteren Momos, gedämpft und auch in vegetarischen Varianten – sie wurden für die Gemeinschaft nach und nach zu einem Weg, hier ein kulturelles und politisches Netzwerk zu finanzieren.

«Das war aber früher noch nicht so einfach», sagt Tsering Gonpa. Die 24-Jährige ist Co-Präsidentin des Vereins Tibeter Jugend in Europa (VTJE). «Meine Eltern hatten etwa vor zwei bis drei Jahrzehnten noch ihre liebe Mühe, am Frühlingsfest in Jona ihre Momos und Shapale zu verkaufen.»

Der VTJE ist mit über 400 Mitgliedern der grösste tibetische Jugendverein Europas. Er will den Tibeterinnen und Tibetern, die noch im Heimatland leben, eine Stimme geben. Durch medienwirksame Aktionen, wie etwa im Vorfeld der Olympischen Spiele 2022 in Peking. Damals wurden Gonpa und andere Vereinsmitglieder während der Fackelzeremonie in Griechenland verhaftet, weil sie Flyer verteilten, die zum Boykott aufriefen.

Neben Protesten und Kursen treffen sich im Verein, der bereits seit über 50 Jahren besteht, hauptsächlich tibetischstämmige Jugendliche und junge Erwachsene für Lager, Partys oder Sportveranstaltungen. Sie führen näher an die tibetische Kultur und Geschichte. «Momosmachen gehört natürlich auch dazu», sagt Gonpa.

Gonpa ist in der Schweiz geboren. Bereits ihre Eltern kamen in Indien zur Welt. Sie sagt, dass es für Schweizer und Schweizerinnen mit tibetischen Wurzeln einfach sei, über die kulturellen und politischen Herausforderungen des eigenen Volks hinwegzusehen. Auch Gonpa tat dies lange. «Erst spät merkte ich, dass ich anders war als meine Schulfreundinnen.» Als sie sich mit ihren Wurzeln auseinandersetzte, erkannte Gonpa, welcher Teil ihr bis anhin gefehlt hatte.

Kaum ein Unternehmen in tibetischer Hand

Tenzin Tibatsang war lange Mitglied des Jugendvereins. Um die politischen und kulturellen Projekte des Vereins unterstützen zu können, begann er selbst Momos herzustellen – wie er es von seinen Eltern gelernt hatte – und zu verkaufen. Wenig später gründete er Tenz Momo. Es gibt kein anderes Unternehmen in der Schweiz, das Tibeterinnen und Tibeter so sehr finanziell unterstützt wie Tenz. «Das ist auch nicht schwierig», sagt Gonpa. Denn Firmen in tibetischer Hand seien selten.

Tibatsang erzählt während des Besuchs in Winterthur, dass tibetische Bekannte aus dem Ausland oftmals scherzen, er habe das grösste tibetische Unternehmen der Welt. Er ist sich der Verantwortung bewusst. Ihm sei es wichtig, der tibetischen Gemeinschaft etwas zurückzugeben. Noch heute flüchten weitere Tibeterinnen und Tibeter in die Schweiz. Bei Tenz finden sie eine Stelle, erhalten Deutschkurse und Hilfe bei der Wohnungssuche.

Foto: Thomas Meier
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«Momos sind unsere Kultur.»
Yeshi Samten Chimetsang
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Mit den Einnahmen finanziert die Momofaktur, wie Tibatsang seine Firma in beispielhaftem Marketingsprech bezeichnet, zahlreiche Projekte rund um die tibetische Gemeinschaft, etwa das Tibet Film Festival oder tibetische Kinderdörfer in Indien, mit mehreren Zehntausend Franken pro Jahr. Weitere Geschäftszahlen will Tibatsang nicht preisgeben. Er versichert jedoch, dass jeder Rappen Gewinn zurück in das Unternehmen fliesse oder gespendet werde.

Filialleiter Yeshi Samten Chimetsang kam als politischer Flüchtling 2015 in die Schweiz. Er lernte Tibatsang an Protestaktionen kennen. Seit drei Jahren arbeitet er bei ihm, stieg jedes Jahr einmal auf – von der Servicekraft über Schichtleiter bis zum Chef eines Tenz-Standorts. «Momos sind unsere Kultur», sagt er.

Chimetsangs Aufstieg drückt aus, was Tibatsang oft hinter Sätzen versteckt, die in einer Werbebroschüre stehen könnten. Man kann ihn als gewieften Unternehmer sehen, seine Firma als simple Erfolgsgeschichte eines Flüchtlings erzählen. Zwischen den einstudierten Zitaten zeigt sich ein anderer Tenzin Tibatsang: mit dem Herz auf der Zunge, aktivistisch geprägt – und oftmals auch etwas unsicher. So wie an diesem Dienstagnachmittag in Winterthur beim Momosfalten.

Kultur, aber keine Politik

Schlieren ZH, Freitagabend: Im Erdgeschoss eines Geschäftsgebäudes im Industriequartier presst eine Maschine Spinat-Ricotta-Füllung auf ausgewallte Teigkreise. Etwas mehr als ein Dutzend Menschen in weissen Hygienekleidern falten auf dem Fliessband die letzten Vegi-Momos des Tages, bevor diese etwas weiter hinten im Spiral-Schockfroster verschwinden und die Maschine sie kurze Zeit später gefroren wieder ausspuckt.

Seit vergangenem Jahr produziert Tenz in Schlieren Teigtaschen für den Detail- und Grosshandel. Tibatsang scheint bereits vor dem Passieren der Hygieneschleuse etwas verlegen. Es ist nicht das Bild, das er mit seinen Momos vermitteln will. Zu industriell, zu kalt. Auch wenn eine Lebensmittelproduktion halt ganz einfach so aussieht, wenn sie nach Vorgabe gebaut wird.

Dennoch führt Tibatsang stolz durch die Räume und zeigt, was bei ihm noch alles Handarbeit ist. «Wir wollen möglichst wenig automatisieren und unseren Angestellten eine sinnvolle Arbeit bieten», sagt er.

Mitarbeiter in der Tenz-Filiale im Bahnhof Winterthur beim Vorbereiten der Momos.
Foto: Thomas Meier

Zugleich sind der Produktionsbetrieb, die Kantine für 140 Leute im Obergeschoss und die grosszügige Bürofläche nebenan ein Ausdruck für grosse Pläne. Bald sei es möglich, die Marke Tenz Momos über den Grosshandel zu beziehen. Geschützt sei der Name bereits in 90 Ländern. Dabei will Tibatsang alleiniger Inhaber bleiben. «Investoren werden bei mir nie Platz finden.» Natürlich sei ihm Profit wichtig – aber nie auf Kosten der tibetischen Kultur.

Denn der Erfolg sei sowohl Segen als auch Fluch. Der Momo-Hype zieht opportunistische Gastronomen an wie Maden zum Speck. Mit Momos lässt sich schnelles Geld machen, die tibetische Kultur bleibt auf der Strecke. «Diese Aneignung macht mich einerseits stolz, tut mir aber auch ungemein weh», sagt Tibatsang. Die tibetische Teigtasche sei das Gericht einer unterdrückten, praktisch heimatlosen Minorität. Das lasse sich nicht mit Pizza, Sushi oder Kebab gleichsetzen.

Politisch äussern will sich Tibatsang heute zurückhaltener als früher. Nur zögerlich spricht er über seine Vergangenheit, die von Petitionen, Appellen und Protestaktionen gegen China geprägt war. Seit er Unternehmer ist, habe er eine grössere Verantwortung. Das wachsame Auge der chinesischen Behörden blickt auch in die Schweiz. «Eine chinesische Einreisesperre habe ich zwar sowieso schon», sagt er.

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