BLICK-Serie Armut in der Schweiz: Teil 3
3 Jobs – aber kein Geld fürs Essen

Der alleinerziehenden Mutter Maria Lehner (29) fehlte jahrelang Geld für Mahlzeiten, obschon sie mehrere Jobs hatte. Sie erzählt BLICK, wie sie sich durchkämpfte und was die Armut in ihrem kleinen Sohn auslöste.
Publiziert: 30.08.2020 um 12:10 Uhr
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Aktualisiert: 30.08.2020 um 12:29 Uhr
Karin A. Wenger

«Ich krampfte wie verrückt, doch es reichte nicht.» Maria Lehner* (29) lebte bis vor Kurzem in Armut. Sie hatte mehrere Jobs: Drei Tage pro Woche arbeitete sie in einem Pflegeheim, sie ging putzen und hütete Hunde. Arbeit und Armut – das ist kein Widerspruch. Rund 135'000 Menschen gelten in der Schweiz als Working Poor. Maria Lehner war vier Jahre lang eine von ihnen.

«Jeder Tag war ein Kampf», sagt die alleinerziehende Mutter. Ihr fehlte oft Geld fürs Essen. Sie ging jeden Dienstagmorgen zur Lebensmittelhilfe «Tischlein deck dich». Vom Verein «Siidefade» erhielt sie Frässpäckli zugeschickt. Sie selbst ass ein Jahr lang fast nur Nudeln. Gemüse und Salat legte sie jeweils auf den Teller ihres Sohns Louis* (6).

Viel Geld geht an die Kita

Alleinerziehende haben ein erhöhtes Risiko, arm zu sein. Das System in der Schweiz sei schlecht konzipiert für Alleinerziehende mit wenig Geld, sagt Lehner. Einen grossen Teil des Einkommens habe sie für Kita-Kosten ausgegeben. Diese konnte sie zwar von den Steuern abziehen, trotzdem bezahlte sie jedes Jahr einige Hundert Franken ans Steueramt. Das ist sehr viel Geld, wenn man zu wenig hat.

Maria Lehner arbeitete in einem Pflegeheim, ging putzen und hütete Tiere. Trotzdem lebte sie vier Jahre am Existenzminimum.
Foto: Karin Wenger
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Ihre Eltern luden sie einmal in die Ferien ein. Maria Lehner genoss diesen Moment am Meer zusammen mit ihrem Sohn Louis sehr. Ansonsten blieb kein Geld fürs Reisen.
Foto: zVg

Mit ihrem Sohn Louis hat sie immer offen über die Situation gesprochen. Sie sagte ihm im Laden oft: «Louis, das liegt nicht drin.»

Als der Kleine am Geburtstag ein Zehnernötli erhielt, sagte er ihr: «Schau Mami, wir haben ja nicht viel Geld. Ich kann beim nächsten Einkauf bezahlen.» Maria Lehner erschrak – und begann, ihm weniger zu zeigen, dass sie knapp bei Kasse sind. Stattdessen sagte sie ihm zum Beispiel, dass sie nur das kaufen, was auf der Einkaufsliste steht. Anfang Monat darf er sich immer etwas aussuchen, am liebsten mag er Toffifee. Bis heute fragt er sie oft: «Mami, passt das, oder ist es zu teuer?»

Die Abwärtsspirale

Lehner absolvierte eine Lehre als Fachfrau für Behindertenbetreuung. Mit 21 wurde sie schwanger. Sie merkte rasch, dass ihr Partner nicht der richtige ist. Doch sie blieb bei ihm. Er gab viel Geld aus, sie nahmen wegen seiner Schulden und für ein neues Auto ein Darlehen bei einem Bekannten auf. Als Louis eineinhalbjährig war, ging die Beziehung in die Brüche. Lehner fand heraus, dass er hinter ihrem Rücken Alimente für ein Kind aus einer früheren Beziehung zahlte und viel Geld veruntreut hatte.

Ihren Job kündete sie, weil sie zurück an den Wohnort der Eltern zog. Sie fiel in eine Depression, war ein Jahr arbeitslos. Doch Lehner kämpfte sich durch. Sie ging in Therapie, fand ihre heutige Stelle in einem Pflegeheim. Sie nahm Nebenjobs an, putzte, hütete Tiere.

Trotzdem musste sie weitere Jahre untendurch. Das gemeinsame Darlehen blieb an ihr hängen, ihr Ex war bereits verschuldet. Mit jedem Franken, der am Ende des Monats übrig blieb, zahlte sie Schulden zurück. «Ich hätte mir so gern einmal Blumen ausgesucht vom Geburtstagsgeld. Aber ich habe mir die vier Jahre lang kein einziges Mal etwas für mich selbst gekauft», sagt sie.

Sie hätte sich gerne Blumen gekauft, doch das Geld reichte dafür nie. Auch nicht an ihrem Geburtstag.
Foto: Karin Wenger

Am meisten gefehlt hat ihr die Zeit mit Louis. Lehner war am Arbeiten, schmiss den Haushalt allein, bezahlte Rechnungen und beantwortete Behördenbriefe. Arm sein ist aufwendig. Vieles, das sie brauchte, suchte sie in Gratis-Facebook-Gruppen. Dann musste sie aber das Abholen koordinieren, sich ausrechnen, wie sie am meisten Benzin sparen kann.

In dem Jahr, als es ihr besonders schlecht ging, schaute Louis oft Fernsehen. «Es hat mir das Herz gebrochen, ich habe so wenig mit ihm gespielt.» Sie macht sich bis heute manchmal Vorwürfe, doch sie weiss auch: Es ging nicht anders, sie gab immer ihr Bestes. Später verbannte sie den TV aus der Wohnung.

Aufs Sozialamt wollte Lehner nie. Die finanzielle Unterstützung wäre nur sehr klein gewesen, da sie arbeitete. Zudem wohnt sie in einem Kanton, der die bezahlten Sozialleistungen zurückfordert, sobald sich die Lage der unterstützten Person bessert. Lieber durchbeissen statt noch mehr Schulden anhäufen, sagte sie sich. Ohne ihre Eltern hätte sie das nicht geschafft. Sie hüteten Louis, steckten ihr ab und zu eine Banknote ein, sammelten Cumuluspunkte für sie. «Ich bin Mami und Papi unglaublich dankbar», sagt sie.

Sie hörte von Kollegen, sie sehe gar nicht arm aus

Armut ist gegen aussen oft nicht sichtbar. Lehner hörte manchmal von Kollegen, sie sehe gar nicht arm aus. «Ich hatte ja meine Möbel und Kleider noch von früher. Es gibt viel mehr arme Leute in der Schweiz als nur Bettler am Strassenrand», sagt Lehner. Etwa 660'000 Personen oder knapp acht Prozent der Schweizer Bevölkerung gelten laut Bundesamt für Statistik als arm.

Seit vergangenem Jahr geht es für Maria Lehner bergauf. Sie zahlte die letzten Franken Schulden zurück, kam mit ihrem jetzigen Partner zusammen. Kürzlich sind sie in eine Wohnung mit grossen Fenstern und Garten gezogen.

Sie ist auch dankbar für die Erfahrung, vier Jahre am Existenzminimum gelebt zu haben. Sie sei viel einfühlsamer und reifer geworden. Geld ist für sie immer noch ein schwieriges Thema. «Für mich ist es sehr schwer, mich daran zu gewöhnen, nicht mehr jeden Rappen umzudrehen.» Sie schätze es aber, Freilandeier aus der Region kaufen zu können – oder ab und zu ein Stück Fleisch.

«Ich habe immer noch Angst, dass wieder alles einstürzt»

Über die Jahre hat sie 20 Kilogramm abgenommen, ihre komplette Garderobe hat sie geschenkt bekommen. Sie trage, was sie habe, aber das entspreche nicht ihrem persönlichen Stil. «Ich möchte wieder mein Ich entfalten», sagt sie. «Aber ich habe auch das Gefühl dafür verloren, was normal ist. Wie viel Geld gibt man zum Beispiel aus beim Kleiderkauf?», fragt sie.

Die Jahre in Armut hinterlassen bei Maria Lehner Wunden. «Ich habe immer noch Angst, dass ich wieder allein dastehe, dass wieder alles einstürzt», sagt sie, und beginnt zu weinen. Es kostete sie viel Überwindung, ihrem Partner zu vertrauen und mit ihm zusammenzuziehen. Doch sie wünscht sich ein stabiles Zuhause für sich und Louis. Er ist jetzt sechs Jahre alt und schon sechs Mal umgezogen. Zum ersten Mal schlägt sie nun in einer Wohnung Nägel ein, statt Fotos an die Mauern zu kleben.

* Namen der Redaktion bekannt

BLICK-Serie: Wie ist es, in der Schweiz arm zu sein?

Wie ist es, in der Schweiz arm zu sein? Das kann nicht pauschal beantwortet werden. Armut hat viele Gesichter.

Als in Genf im Mai 2500 Menschen stundenlang anstanden für gratis Essen, sorgten die Bilder der langen Schlange für Aufstehen. In der wohlhabenden Schweiz wird Armut oft übersehen.

Etwa 660'000 Personen oder knapp acht Prozent der Schweizer Bevölkerung gelten als arm. Die Armutsgrenze liegt bei 2293 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 3968 Franken pro Monat für ein Elternpaar mit zwei Kindern. Damit müssen Wohnung, Krankenkasse, Essen, Kleider, Pflege, Verkehr, Bildung und Hobbys bezahlt werden.

Viele Betroffene versuchen, die Armut vor der Aussenwelt zu verstecken. Und die meisten Menschen mit genügend Geld wissen nicht, was es heisst, in der Schweiz arm zu sein. BLICK will das ändern. In der dreiteiligen Serie geben betroffene BLICK-Leserinnen und Leser Einblick in ihren Alltag.

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