BLICK-Serie Armut in der Schweiz: Teil 1
«Manchmal bin ich durch die Strassen geirrt und habe Münz gesucht»

BLICK-Leser Stefan Mathys wohnte einst in einem Haus mit Pool, nun lebt er seit fünf Jahren am Existenzminimum. Er erzählt aus seinem Leben in Armut und wieso ihm zwei Wochen Gefängnis drohen.
Publiziert: 26.12.2020 um 16:00 Uhr
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Aktualisiert: 26.12.2020 um 16:46 Uhr
Karin A. Wenger

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 23. August 2020. Im Rahmen unseres Rückblicks auf die besten Community-Geschichten veröffentlichen wir ihn nun erneut.

Wenn möglich geht Stefan Mathys (49) drei Mal pro Tag zum Denner. Am Morgen, am Nachmittag und nochmals kurz vor Ladenschluss. Sein Blick sucht immer nach neuen grün-roten «50%»-Klebern. «Arm zu sein, ist unfassbar aufwendig», sagt er und greift im Kühlregal nach Pouletbrüstli mit einem «25%»-Rabattkleber. «Morgen müsste ich um neun Uhr kommen, weil es dann halber Preis ist.» Zu Hause friert er die Schnäppchen ein. Das ist eine seiner Strategien, um weniger Geld auszugeben.

Vor zehn Jahren jettete Mathys noch um die Welt, träumte von Lamborghinis und Rolex-Uhren. Damals dachte er über arme Menschen in der Schweiz, sie seien faul und selbst schuld an ihrer Situation. «Ich war arrogant und ignorant», sagt er. Seit fünf Jahren lebt Mathys selbst am Existenzminimum. «Wir haben in der Schweiz eine versteckte Armut. Den meisten Betroffenen sieht man es von aussen nicht an.» Jede zwölfte Person in der Schweiz gilt laut Bundesamt für Statistik als arm.

Stefan Mathys (49) lebt seit fünf Jahren am Existenzminimum.
Foto: Nathalie Taiana
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Früher Erfolg im Job

Im Denner nimmt er nur selten Früchte, die sind teuer. Er legt ein Knoblauchbrot zum Aufbacken in den Einkaufskorb, es kostet einen Franken. Dazu tiefgekühlte Pommes frites für 3.70 Franken. Kartoffeln plus Gewürzmischung wären teurer.

Tiefgekühlte Pommes Frites kosten weniger als frische Kartoffeln plus Gewürzmischung.
Foto: Nathalie Taiana

Mathys wuchs in Urdorf ZH auf. Das Gymnasium schloss er als Zweitbester ab. Er war ein begabter Klavierspieler und wollte an die Musikschule Zürich. Doch sein Umfeld sagte, als Pianist verdiene er kaum. Also ging er an die Universität, brach das Studium jedoch ab und begann Mitte der 90er-Jahre bei IBM Schweiz zu arbeiten. Er war zuständig für das damals aufkommende Internet, nahm als 24-Jähriger in der Teppichetage an Sitzungen teil.

Im Jahr 2000 wanderte Mathys wegen der Liebe in die USA aus. Er lebte später in Costa Rica, handelte mit Immobilien, wohnte in einem Haus mit Pool. 2008 kam die Wirtschaftskrise, er verlor viel Geld. Sein Lebenspartner trennte sich von ihm und behielt einen grossen Teil des Ersparten. Er kehrte zurück in die Schweiz und arbeitete einige Jahre als Selbständiger im Auftrag einer Kommunikationsagentur. Diese verlor 2014 den Grosskunden, für den Mathys zuständig war. So hatte auch er keinen Job mehr.

Mathys fiel in eine schwere Depression. Zuerst dachten die Psychiater, es sei ein Burnout. Sie schrieben ihn krank. Er rutschte in die Sozialhilfe.

Wegen der Armut viele Freunde verloren

Im Denner Urdorf steht Stefan Mathys vor dem Alkoholregal. Er legt einen Prosecco für 6.95 Franken in das Einkaufskörbli. Heute ist er bei einem Geburtstag eingeladen. «Diese Flasche ist die günstigste, die gerade noch gut ist. Man sollte nicht mit leeren Händen an solche Feste kommen.»

Seit Mathys am Existenzminimum lebt, hat er viele Freunde verloren. Armut macht einsam. Zu Beginn bezahlten sie ihm noch das Bier am Abend, doch bald fragten sie ihn weniger, ob er mitkommen möchte. Das schmerzte ihn. Geblieben sind drei gute Freunde und die Familie. Seine Geschwister bat er ab und zu um Geld, doch nur sehr ungern. Seine Mutter war selbst knapp bei Kasse.

Rechnungen, Mahnungen, Behördenbriefe: Arm zu sein empfindet Mathys als sehr zeitraubend.
Foto: Nathalie Taiana

Nachdem Mathys den Job verloren hatte, konnte er die hohen Fixkosten seines früheren Lebens nicht schnell genug reduzieren – teure Miete, Auto, Krankenkasse, Abonnemente und einen Leasingvertrag für einen Computer. Innerhalb von wenigen Monaten verschuldete er sich. Der Vermieter stellte ihn auf die Strasse. Die Stadt Zürich transportierte seine Möbel ab.

Als Obdachloser übernachtete er im Luxushotel

Er lebte manchmal befristet einige Monate in Wohnungen, manchmal stellte ihm die Sozialhilfe ein Hotelzimmer zur Verfügung. «Es ist absurd, ich wohnte einmal in einer riesigen Penthouse-Suite, hatte aber nichts zu essen und suchte am Laptop nach Bruchbuden.» Mit seinem Betreibungsregisterauszug eine Wohnung zu suchen, war schwer.

Mathys erholte sich von der Depression kaum. Er blieb jahrelang erschöpft. Erst im vergangenen Jahr fanden die Ärzte heraus, dass er an einer sogenannten zentralen Schlafapnoe leidet. Diese Krankheit verursacht, dass er beim Schlafen immer wieder für mindestens zehn Sekunden nicht einatmet. Seit er in der Nacht ein Atemgerät trägt, erholt er sich. Als im Frühling seine Mutter starb, zeigte sich der Besitzer bereit, ihm ihre Wohnung zu vermieten. Endlich fand Mathys wieder ein langfristiges Zuhause.

Ein Energy Drink für 80 Rappen liegt drin.
Foto: Nathalie Taiana

Im Denner greift Stefan Mathys nach einem Energydrink für 80 Rappen. Das braucht er an den Tagen, wenn er früh rausmuss. Zurzeit absolviert er ein Arbeitsintegrations-Programm der IV und arbeitet ein halbes Jahr lang 50 Prozent in der Kommunikation eines Verlags. Ende Monat erhält er 150 Franken Lohn. Zur Arbeit pendelt er eineinhalb Stunden pro Weg, die Sozialhilfe zahlt einen Anteil an ein Abo für den Zürcher Verkehrsverbund.

Busse bezahlen oder ins Gefängnis

Mathys ist froh, zurzeit nicht mehr ohne Ticket im ÖV zu fahren. «Jedes Mal nach dem Schwarzfahren war ich nervlich am Ende», sagt er. Vor dem Tod seiner Mutter besuchte er sie oft in Urdorf, das Ticket von Zürich aus konnte er sich nicht leisten. Die Kontrolleure verteilten ihm Bussen, die er nicht bezahlen konnte. Nun schickte ihm das Justizdepartement Zürich einen Brief: Entweder begleicht er die Geldstrafe von 1400 Franken, oder er sitzt Mitte September eine Ersatzfreiheitsstrafe von 16 Tagen im Gefängnis Meilen ab.

«Solche Dinge hindern mich daran, produktiv zu sein in meinem Alltag», sagt Mathys. Er versucht nun, die Tage im Gefängnis zu verschieben, damit er sein Arbeitsintegrations-Programm abschliessen kann. «ÖV-Tickets sind für Menschen in Armut ein Hindernis für Bewerbungsgespräche, Behördengänge und generell, um aus dem Haus zu gehen. Man bewegt sich nur noch in einem sehr kleinen Radius.»

Fleisch kauft Stefan Mathys fast immer reduziert.
Foto: Nathalie Taiana

An der Kasse im Denner legt Mathys seine Esswaren aufs Laufband. Der Einkauf kostet 18.10 Franken. Manchmal verrechnet er sich und muss Dinge zurücklegen. «Das ist sehr unangenehm, aber man gewöhnt sich daran.» Vor fünf Jahren, ganz zu Beginn der Sozialhilfe, hatte er manchmal schon am 20. des Monats kein Geld mehr. Dann sei er durch die Strassen geirrt, um Münzen zu suchen. Einmal sah er, wie einer alten Frau eine Zehnernote herunterfiel. Er zögert und sagt: «Ich habe das Geld eingesteckt.» Dann schweigt er lange. «Das ist entwürdigend.»

Der frühere Jetsetter möchte sein Leben nun dazu nutzen, anderen zu helfen. «Ich bin von Natur aus ein Kämpfer, ich sehe die Armut nicht als lebenslängliches Urteil», sagt er. Er möchte eine digitale Plattform sowie eine App aufbauen, die Angebote und Informationen für Menschen in Armut in verschiedenen Sprachen zusammenführt. Dort gäbe es auch Vorlagen für Briefe und einen Überblick über rechtliche Hilfe. Zurzeit schreibt Mathys Stiftungen für eine Anschubfinanzierung an.

Falls er selbst aus der Armut rausfindet, möchte er sich als Erstes ein Digitalpiano kaufen. Vor einigen Jahren verkaufte er in der Not sein Klavier, um bis Ende Monat durchzukommen. Zuvor spielte er regelmässig Chopin und Rachmaninow. «Das war immer ein Stück Balsam für meine Seele. Wenn ich spielte, konnte ich alles vergessen.»

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BLICK-Serie: Wie ist es, in der Schweiz arm zu sein?

Wie ist es, in der Schweiz arm zu sein? Das kann nicht pauschal beantwortet werden. Armut hat viele Gesichter.

Als in Genf im Mai 2500 Menschen stundenlang anstanden für gratis Essen, sorgten die Bilder der langen Schlange für Aufstehen. In der wohlhabenden Schweiz wird Armut oft übersehen.

Etwa 660'000 Personen oder knapp acht Prozent der Schweizer Bevölkerung gelten als arm. Die Armutsgrenze liegt bei 2293 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 3968 Franken pro Monat für ein Elternpaar mit zwei Kindern. Damit müssen Wohnung, Krankenkasse, Essen, Kleider, Pflege, Verkehr, Bildung und Hobbys bezahlt werden.

Viele Betroffene versuchen, die Armut vor der Aussenwelt zu verstecken. Und die meisten Menschen mit genügend Geld wissen nicht, was es heisst, in der Schweiz arm zu sein. BLICK will das ändern. In der dreiteiligen Serie geben betroffene BLICK-Leserinnen und Leser Einblick in ihren Alltag.

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Es war für niemanden ein einfaches Jahr – umso wichtiger ist es, dass wir in diesen schwierigen Zeiten alle zusammenhalten. Auch wir haben gemeinsam mit unseren Leserinnen und Lesern intensiv gelitten, geweint und ab und zu trotz widrigster Umstände gelacht.

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