WHO-Chefermittler Embarek packt aus
Coronavirus-«Patient Null» könnte ein Laborforscher in Wuhan gewesen sein

Ein halbes Jahr lang hat er geschwiegen. Jetzt macht der WHO-Chefermittler der China-Mission eine Kehrtwende. Der Däne Peter Embarek spricht von systematischen Vertuschungsmethoden Chinas. Er hält es für möglich, das der erste Covid-Patient ein Forscher in Wuhan war.
Publiziert: 14.08.2021 um 01:41 Uhr
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Aktualisiert: 14.08.2021 um 14:17 Uhr
Daniel Kestenholz

Der dänische Wissenschaftler Peter Embarek hat die Delegation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Januar nach Wuhan angeführt. Wenn ein WHO-Forscher über Wuhan, das Coronavirus und China Bescheid weiss, dann WHO-Delegationsleiter Embarek. Ein halbes Jahr nach der von China systematisch behinderten Studienreise, die den Ursprung der Covid-19-Pandemie erforschen sollte, macht der WHO-Chefermittler die grosse Kehrtwende. Zeigte sich die WHO bislang noch bedeckt zur Theorie, dass das Virus aus dem Wuhan-Labor stammen könnte, packt Embarek jetzt aus.

«Patient Null», der erste Mensch, der sich mit Covid-19 infizierte und damit die weltweite Lungenseuche lostrat, könnte ein Forscher im Wuhan-Institut für Virologie gewesen sein. Das sagt Embarek in einer Dokumentation des dänischen TV-Senders TV2. Ein Laborangestellter, der sich «während der Entnahme von Proben infiziert hat, fällt nun unter die glaubhaften Hypothesen», der erste Covid-Patient überhaupt zu sein.

Doch Embarek äussert sich nicht nur kritisch zu den Vertuschungsversuchen der Chinesen. Er zeigt mit dem Finger auch auf die eigenen Reihen und rechnet mit dem im März veröffentlichten WHO-Abschlussbericht zur Expertenmission in Wuhan ab. Sein andeutungsschwerer Vorwurf: «Vielleicht gibt es überhaupt niemanden, der die Wahrheit kennen möchte.»

Der dänische Wissenschaftler Peter Embarek war WHO-Chefermittler der China-Mission im Januar.
Foto: Keystone
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Harmloses Labor-Sightseeing

Embareks Worte entsprechen nicht länger der offiziellen WHO-Version, wonach es «extrem unwahrscheinlich» sei, dass das Virus Ende 2019 aus dem Wuhan-Labor entwich. Zwar glaubt Embarek weiterhin nicht, dass das Virus bewusst im Rahmen von Experimenten gezüchtet worden sei. Doch er hält es für gut möglich, dass sich ein Forscher oder eine Forscherin im Labor bei einer Fledermaus ansteckte.

China, so Embarek, habe enormen Druck auf sein Team ausgeübt und die WHO-Arbeit systematisch behindert. Erst musste die Forschungsreise aus unerfindlichen Gründen verschoben werden, dann verweigerte Peking zwei Wissenschaftlern des zehnköpfigen internationalen Forschungsteams die Einreisepapiere, als sie schon im Flugzeug waren.

Die 14 Tage in Quarantäne verbrachte Embarek vorab damit, seinem Team Zugang zum Wuhan-Labor zu sichern. Der wurde schliesslich gewährt - doch viel mehr als die Eingangshalle gab es nicht zu sehen. Das Innere der Laborräume gabs nur durch Glasfenster zu beobachten. Die WHO erhielt weder Zugang zu Daten noch zu in Spitälern gelagerten Blutproben. Auch null Zugriff auf Labordokumente. Die Chinesen stellten sicher: Die von der WHO angestrebten Labor-Recherchen wurden zum harmlosen Labor-Sightseeing.

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Es gebe in Wuhan mehrere Forschungslabore, führt Embarek aus. Ein zweites der Gesundheitsbehörde (CDC) unweit des Frischmarktes habe die Delegation ebenfalls besuchen können, wieder unter strenger Aufsicht. Das Labor sei erst im Dezember 2019 dorthin gezogen. Beim Umzug der Virenproben habe es zu Sicherheitsmängeln kommen können, räumt Embarek ein. Weitere Nachforschungen sowie Einblicke in Laborbücher wären nötig - die China nicht gewährt.

Den WHO-Forschern wurde der angebliche «Patient Null» präsentiert: Ein «ganz normaler Büroangestellter», sagt Embarek, der nie auf dem fraglichen Frischmarkt gewesen sei, wohin erste Fälle wiesen. Der Mann in seinen Vierzigern habe ein «sehr langweiliges Leben» und «tagein, tagaus im Internet gesurft». Embarek: «Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wirklich der erste Corona-Patient war.»

Der Mann war am 8. Dezember 2019 Chinas offiziell erster Corona-Patient. Inzwischen gibt es jedoch hinreichend Hinweise darauf, dass das Virus schon Monate früher im Land und auch weltweit präsent war. Laut einem US-Bericht soll der Erreger bereit im August aus dem Labor entwichen sein.

Vier mögliche Thesen zur Herkunft des Virus

Einig scheinen sich Embarek, die WHO und die chinesischen Kollegen darin zu sein, dass das Virus von Hufeisen-Fledermäusen stammt. Die leben jedoch nicht im Gebiet um Wuhan. Laut WHO gibt es daher vier Thesen: Entweder hat sich ein Reisender angesteckt und die Infektion nach Wuhan gebracht. Oder die Fledermäuse kamen tiefgefroren auf den Wuhan-Frischmarkt. Dritte These: Ein Tier wurde von einer Fledermaus angesteckt und kam dann nach Wuhan. Oder es gab einen Laborunfall im Wuhan-Institut für Virologie, wo auch Fledermaus-Coronaviren gelagert und erforscht werden.

Laut Embarek habe auch die WHO-Spitze gezögert, die Labortheorie im Abschlussbericht aufzuführen. Noch 48 Stunden vor Veröffentlichung des Berichts sei jede Erwähnung einer Verbindung zwischen dem Ursprung des Virus und dem Labor vehement zurückgewiesen worden. Schliesslich hätten sich die Chinesen durchgesetzt. Der Bericht sprach nur noch vage von der Labortheorie. China, so Embarek, habe es «zur Bedingung» gemacht, «dass wir keine bestimmten Untersuchungen empfehlen, um die Hypothese weiter voranzubringen».

WHO fordert von China Offenlegung von Daten zu ersten Corona-Infektionen

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat China dazu aufgerufen, Rohdaten zu den ersten Corona-Fällen offenzulegen. Der Zugang zu diesen Informationen sei von «entscheidender Bedeutung» für die weiteren Untersuchungen zum Ursprung der Pandemie, erklärte die WHO am Donnerstag. Dies sei auch wichtig, um die Theorie eines Laborunfalls zu prüfen.

Um die Untersuchungen zum Corona-Ursprung voranzutreiben, seien alle Länder aufgerufen, die gemeinsame Nutzung von Rohdaten und die erneute Untersuchung von Proben zu ermöglichen, betonte die WHO.

Schon bald nach Beginn der Pandemie war darüber spekuliert worden, dass das Virus bei einem Unfall aus dem Institut für Virologie in Wuhan, in dem an Coronaviren geforscht wird, entwichen sein könnte. Die chinesische Regierung bestreitet dies energisch.

Die Labor-Theorie zähle für ihn zu den «wahrscheinlichen Hypothesen», sagte der dänische Wissenschaftler Peter Ben Embarek, der die WHO-Mission in Wuhan geleitet hatte, am Donnerstag im dänischen Fernsehen. Er halte es für möglich, dass ein Labormitarbeiter sich bei der Probenentnahme infiziert habe und das Virus so von Fledermäusen auf den Menschen übertragen worden sei. (AFP)

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat China dazu aufgerufen, Rohdaten zu den ersten Corona-Fällen offenzulegen. Der Zugang zu diesen Informationen sei von «entscheidender Bedeutung» für die weiteren Untersuchungen zum Ursprung der Pandemie, erklärte die WHO am Donnerstag. Dies sei auch wichtig, um die Theorie eines Laborunfalls zu prüfen.

Um die Untersuchungen zum Corona-Ursprung voranzutreiben, seien alle Länder aufgerufen, die gemeinsame Nutzung von Rohdaten und die erneute Untersuchung von Proben zu ermöglichen, betonte die WHO.

Schon bald nach Beginn der Pandemie war darüber spekuliert worden, dass das Virus bei einem Unfall aus dem Institut für Virologie in Wuhan, in dem an Coronaviren geforscht wird, entwichen sein könnte. Die chinesische Regierung bestreitet dies energisch.

Die Labor-Theorie zähle für ihn zu den «wahrscheinlichen Hypothesen», sagte der dänische Wissenschaftler Peter Ben Embarek, der die WHO-Mission in Wuhan geleitet hatte, am Donnerstag im dänischen Fernsehen. Er halte es für möglich, dass ein Labormitarbeiter sich bei der Probenentnahme infiziert habe und das Virus so von Fledermäusen auf den Menschen übertragen worden sei. (AFP)

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Die chinesische Regierung könne dies laut Embarek getan haben, um den Bericht zu kontrollieren - oder weil sie etwas zu verstecken haben. Für Embarek sei die Art, «wie sich die Regierung benommen habe», ein Grund, die «Labortheorie weiter zu untersuchen».

Embarek äussert fünfte, «wahrscheinlichste Hypothese»

Embarek äussert eine fünfte, die seiner Ansicht nach «wahrscheinlichste Hypothese»: Ein Forscher eines Labors habe sich bei der Feldarbeit angesteckt. Beim Einfangen von Fledermäusen «könnte ein Virus direkt auf den Menschen überspringen. Dann hätten wir einen Labor-Mitarbeiter als ersten Patienten und nicht irgendeine zufällige Person.»

Im Juli hat die WHO eine erneute Wuhan-Untersuchung vorgeschlagen. Diesmal mit Experten, die nicht nur wissenschaftlich untersuchen, sondern polizeimässig ermitteln dürften. China wiegelt ab. Vize-Gesundheitsminister Zeng Yixin zeigte sich «äusserst überrascht», dass die internationale Weltgemeinschaft weitere Untersuchungen in China fordert. Zeng warf der WHO eine «Missachtung des gesunden Menschenverstandes und Arroganz gegenüber der Wissenschaft» vor.

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