Verräter aus dem Geheimdienst lotsten Russen um Minenfelder
Darum wirft Selenski seinen Jugendfreund raus

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski trennt sich von zwei Top-Mitarbeitern. In ihren Abteilungen haben Verräter geheime Informationen an den Feind aus Russland weitergeleitet – mit verheerenden Folgen. Auch 28 weitere Offiziere sollen gehen.
Publiziert: 18.07.2022 um 22:37 Uhr
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Aktualisiert: 18.07.2022 um 22:52 Uhr
Guido Felder

Es ist ein drastischer Schritt, den der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) vollzogen hat: Am Sonntag wurde bekannt, dass er den Inlandgeheimdienst-Chef Iwan Bakanow (47) und die Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa (43) entlassen hat.

Offiziell wurde Bakanow «wegen Vernachlässigung seiner Pflichten» gefeuert. Dies habe zu vielen menschlichen Opfern und anderen schwerwiegenden Folgen geführt. Mit anderen Worten: Bakanow hatte seinen Laden nicht im Griff.

Schlimmer noch: Er liess den Geheimdienst von Leuten unterwandern, die den Russen vertrauliche Informationen weiterleiteten. Selenski gab am Sonntag bekannt, dass es 651 Strafverfahren gegen Beschäftigte der Staatsanwaltschaft und anderer Strafverfolgungsbehörden wegen Hochverrats und Kollaboration mit russischen Diensten gebe.

Inlandgeheimdienst-Chef Iwan Bakanow und Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa mussten den Hut nehmen.
Foto: imago images/Ukrinform
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Mehr als 60 Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdiensts und der Generalstaatsanwaltschaft sollen die Seiten gewechselt haben und für Russland arbeiten.

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Schneller Vorstoss im Süden

Dank Informationen ist es den Russen gelungen, im Süden der Ukraine so schnell vorzustossen. David Nauer (45), Russland-Experte bei Radio SRF, sagte am Montag in der Sendung «Rendez-vous»: «Die russischen Truppen haben, wie es aussieht, Hilfe aus dem ukrainischen Geheimdienst bekommen. Sie konnten so gezielt Minenfelder umfahren. Auffällig ist auch, dass eine Brücke über den Dnepr nicht gesprengt wurde und die Russen so relativ mühelos Cherson erobern konnten.»

Im Inlandgeheimdienst SBU war es vor wenigen Tagen zu einer Verhaftung eines hochrangigen Beamten gekommen, der geheime Informationen an die Russen ausgehändigt haben soll. Im April waren zwei hochrangige Generäle entlassen worden, weil sie ihr Heimatland verraten haben sollen. Das schreibt Kyivindependent.com.

Selenskis Jugendfreund

Bakanow wird schon seit Wochen kritisiert, weil er nicht angemessen auf Russlands Invasion reagiert hatte. Er galt lange Zeit als der engste Verbündete von Selenski und war der juristische Kopf von Selenskis Partei «Diener des Volkes». Die beiden sind im gleichen Quartier in Krywyj Rih aufgewachsen und arbeiteten auch zu Selenskis Kabarettisten-Zeiten zusammen. Laut den im Oktober 2019 veröffentlichten Pandora Papers war Bakanow Eigentümer von Offshorefirmen, die mit Selenski verbunden waren.

Zu den Skandalen, in die sowohl Bakanows als auch Wenediktowas Behörden verwickelt waren, gehörte die angebliche Sabotage einer Bestechungsuntersuchung gegen Oleh Tatarow (39), den stellvertretenden Leiter von Selenskis Büro.

Wenediktowa blockierte laut Kyivindependent.com zweimal die Anklage gegen Tatarow und ersetzte eine Gruppe von Staatsanwälten, die mit dem Fall betraut waren. Dann nahm sie dem Nationalen Antikorruptionsbüro der Ukraine (Nabu) den Fall weg und übergab ihn an Bakanows SBU, woraufhin der Fall in sich zusammenfiel. Wenediktowa wird auch die Verschleppung weiterer Fälle vorgeworfen.

Selenski wartete ab

Für Mykola Davydiuk (34), Direktor des ukrainischen Thinktanks «Politik», kommen die Entlassungen nicht überraschend. «Schon vor der russischen Invasion gab es Vorwürfe an die beiden», sagt er zu Blick. Mit personellen Konsequenzen habe Selenski aber zugewartet, weil er beim Ausbruch des Kriegs nicht noch mehr Unruhe verursachen wollte.

Selenski sei ein Mann, der eine Situation zuerst beobachte, bevor er durchgreife. «Er hat beiden eine Chance gegeben, um sich zu ändern», sagt Davydiuk. Gebessert hat es nicht. Davydiuk: «Von Bakanow sagt man, dass er oft bei der Arbeit gefehlt habe, und Wenediktowa war bei ihren Fällen zu wenig effizient.»

Ende der Vetternwirtschaft

Dass Selenski seinen Jugendfreund rauswirft, zeige, dass er nur die besten Leute auf den verantwortungsvollen Posten haben wolle. «Vetternwirtschaft, bei der man seine Freunde schützte, war früher und ist vorbei», sagt Davydiuk. «Jetzt geht es ums Überleben und Gewinnen.»

Dennoch, so glaubt Davydiuk, werde Selenski die entlassenen Top-Leute nicht fallen lassen. «Ich könnte mir vorstellen, dass er ihnen einen neuen, allerdings weniger verantwortungsvollen Job anbietet.»

Inzwischen hat Selenski beide Posten interimsmässig neu besetzt: Bakanow wird durch dessen Stellvertreter Wassyl Maljuk (39) ersetzt, Wenediktowa durch deren Stellvertreter Oleksij Simonenko (45). «Es braucht jetzt Leute, die mehr militärisch denken», sagt Davydiuk.

Dutzende Geheimdienstoffiziere sollen folgen

Und es soll nicht bei Bakanow bleiben: Am Montag kündigt Selenski an, weitere 28 Offiziere des SBU entlassen zu wollen. Es gehe um unterschiedlich hohe Posten und Funktionen, «aber die Begründungen sind ähnlich: unbefriedigende Arbeitsergebnisse», sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache.

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