Ukraine holt eroberte Gebiete zurück – Militärstratege schliesst ganze Befreiung nicht aus
«Wir haben Wendepunkt auf dem Schlachtfeld erreicht»

Für die Russen wirds in der Ukraine immer schlimmer: An mehreren Orten sind die Ukrainer auf dem Vormarsch. Militärexperte Mauro Mantovani schliesst sogar nicht aus, dass das ganze Land befreit werden kann. Unter einer Voraussetzung.
Publiziert: 25.07.2022 um 19:51 Uhr
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Aktualisiert: 26.07.2022 um 14:50 Uhr
Guido Felder

Wendet sich das Blatt? Die ukrainische Armee ist im Süden des Landes laut eigenen Angaben auf dem Vormarsch und drängt die russischen Invasoren zurück. Serhij Chlan (50) von der Kiew-treuen Militärverwaltung in Cherson sagte: «Wir können sagen, dass ein Wendepunkt auf dem Schlachtfeld erreicht wurde.»

Laut Chlan haben ukrainische Luftschläge alle drei von Russland kontrollierten Brücken um Cherson beschädigt. Ziel: den russischen Nachschub zu verhindern. Nach Angaben von Kiew sind 1000 russische Soldaten eingekesselt worden.

Cherson war schon eine Woche nach Beginn der Invasion von den Russen erobert worden. Inzwischen wird mit Rubel bezahlt, die ukrainische Verwaltung wurde durch eine russische ersetzt. Chlan prognostiziert, dass Cherson «definitiv bis September befreit» sein werde.

Ukrainische Soldaten feuern mit einer Haubitze auf gegnerische Stellungen im Osten des Landes.
Foto: DUKAS
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Das offensive Potenzial der Russen brechen

«Wer Cherson hält, hat einen gewichtigen Vorteil», sagt ETH-Strategieforscher Niklas Masuhr (29) zu Blick. «Die Ukraine könnte Russland einen wichtigen Vektor zukünftiger Vorstösse dauerhaft versiegeln. Zudem bedeutet es, dass sich Moskau Sorgen um seine Versorgungswege von der Krim machen müsste, was potenziell Truppen an andern Orten wie im Donbass abzieht.»

Masuhr bilanziert: «Mittelfristig könnte eine Rückeroberung von Cherson das offensive Potenzial Russlands in der Ukraine brechen.»

Der unabhängige US-Think-Tank Institute for the Study of War (ISW), der den Kriegsverlauf täglich analysiert, bestätigt, dass die ukrainischen Streitkräfte in der vergangenen Woche bei Cherson «Teile russisch besetzter Dörfer» zurückerobert und somit territoriale Fortschritte entlang der Frontlinien gemacht hätten.

Die Ukraine braucht schwere Mittel

Seit dem Einmarsch der Russen ist es den Ukrainern immer wieder gelungen, Boden gutzumachen. So haben sie die Russen Anfang April aus dem Raum der Grossstädte Kiew und Charkow und Ende Juni von der 35 Kilometer vor der Küste liegenden Schlangeninsel vertrieben.

Das dürfte noch nicht alles sein. Mauro Mantovani (58), Strategieexperte an der ETH-Militärakademie, schliesst weitere Rückeroberungen nicht aus. Dazu benötigten die Ukrainer allerdings schwere Mittel aus dem Westen. «Es braucht Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie, in Kombination mit lokaler Luftüberlegenheit», sagt Mantovani Blick.

Holt sich die Ukraine die Krim zurück?

Von diesen Mitteln besässen die Ukrainer deutlich weniger als die Russen. Hingegen verfüge die Ukraine über mehr infanteristische Truppen, die auch mit mehr Motivation in den Kampf zögen. Mantovani: «Das ist ebenfalls wichtig für den Erfolg von Vorstössen, die für den Angreifer tendenziell verlustreicher sind als für den Verteidiger.»

Mantovani schliesst nicht aus, dass die Ukraine langfristig sogar das gesamte von Russen besetzte Gebiet zurückerobern könnte – inklusive der 2014 annektierten Halbinsel Krim. «Voraussetzung dafür wäre jedoch ein militärischer oder politischer Kollaps Russlands», sagte Mantovani.

Der russische Bär am Boden? Mantovani: «Beides ist nicht undenkbar, insbesondere wenn die westlichen Sanktionen anhalten und die Waffenlieferungen weitergehen.»


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