Sie soll im Wald aufgewachsen sein – Kinderschutz-Experten ordnen ein
Wie es mit der entführten Schweizerin (17) jetzt weitergeht

Jahrelang hatte sie niemand mehr auf dem Radar, dann tauchte sie plötzlich mit ihrem Vater in Spanien auf. Nun ist die entführte 17-jährige Schweizerin wieder zurück in ihrer Heimat. Experten zweifeln jedoch, ob sie jemals ein normales Leben wird führen können.
Publiziert: 19.05.2024 um 20:03 Uhr
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Aktualisiert: 20.05.2024 um 10:18 Uhr
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Cédric HengyRedaktor News

Es war ein seltsamer Anblick, der sich den spanischen Polizisten bot, als sie Mitte März auf einem Parkplatz der Stadt Coín im Süden des Landes, auf ein Mädchen stiessen, das total verwahrlost aussah.

Gemeinsam mit ihrem ebenso ungepflegt aussehenden Vater versteckte sich die 17-Jährige hinter einem vollgestopften Auto, in dem die beiden offenbar lebten. Für die Beamten war schnell klar, dass da etwas faul sein musste. Also nahmen sie Vater und Tochter mit auf den Polizeiposten, um Licht in die Sache zu bringen.

Am 18. März stiessen spanische Polizisten auf einem Parkplatz auf ein völlig verwahrlostes Mädchen und ihren Vater.
Foto: Screenshot antena3
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Hauste jahrelang völlig abgeschottet

Und siehe da: Der Blick in die Polizeidatenbank verriet tatsächlich Erstaunliches. So zeigte sich, dass die 17-Jährige aus der Schweiz stammt und bereits seit Jahren mit ihrem Vater und ihren beiden Schwestern fernab der Zivilisation hauste.

Ganz so harmonisch dürfte das Zusammenleben jedoch nicht gewesen sein. Denn aus der Schweiz lag schon seit längerem eine dringende Gefahrenmeldung für das Mädchen vor. Ihr Aufenthaltsort sei zwar unbekannt, jedoch bestünde ein «hohes Entführungsrisiko» durch den Vater.

Nun ist das verschwundene Mädchen also nach jahrelanger Suche wieder aufgetaucht. Trotz glücklichem Ende schlägt der Fall hierzulande grosse Wellen. Die ganz grosse Frage dabei: Wie hat es nur so weit kommen können?

Vorfall sei theoretisch auch in der Schweiz möglich

Selbst Experten scheinen ab dem Ausmass der Entführung überrascht. Einen solch gravierenden Fall von Isolation und Verwahrlosung habe er noch nie betreut, sagt etwa Patrick Fassbind, der Präsident der Kesb Basel-Stadt gegenüber der «SonntagsZeitung». Er betont aber, dass ähnliche Fälle auch hierzulande nicht unvorstellbar seien.

«Auch in der Schweiz ist es möglich, sich ausserhalb des sozialen Radars zu bewegen», sagt Fassbind. Als Beispiel nennt er etwa, wenn eine Familie ins Ausland ziehen möchte und sich bei den hiesigen Behörden abmeldet. Ist das erledigt, rennen einem die Schweizer Behörden nämlich nicht hinterher und kontrollieren, ob man sich denn auch am neuen Wohnort registriert hat.

Im Fall, dass besagte Familie wieder in die Schweiz zurückkommt oder trotz Abmeldung gar nie weggezogen ist, sei es laut Fassbind möglich, sich dem Kindesschutz zu entziehen. Dieser hat die Aufgabe, sicherzustellen, dass ein Kind in einem geordneten Rahmen aufwachsen kann, also etwa mit Schulbildung und sozialen Kontakten.

«Es braucht individuelle Lösungen»

Auch wenn ein solches Abtauchen theoretisch möglich wäre, attestiert Fassbind potenziellen Nachahmern jedoch eher kleine Chancen. «Es ist allerdings in der kleinräumigen Schweiz etwas schwieriger, sich unbemerkt über längere Zeit im Wald zu verstecken, als andernorts», so Fassbind.

So hat er es in seiner täglichen Arbeit denn auch eher weniger mit derartigen Fällen zu tun. Viel mehr stünden diejenigen Kinder auf seiner Agenda, die in den ersten Lebensjahren sozial isoliert wurden und dadurch stark gelitten haben. «Das kann sein, weil sie in sektiererischen oder radikalisierten Kreisen oder bei psychisch schwer kranken Eltern aufgewachsen sind.» Auch Kinder von Sans-Papiers seien grösseren Risiken ausgesetzt.

Für derart verwahrloste Kinder sei es schwierig bis unmöglich, ihren Platz in einer Regelklasse zu finden. «Es braucht individuelle Lösungen, damit sich ein Kind so weit nachentwickelt, dass es sich in der Gesellschaft zurechtfinden kann», resümiert Fassbind.

Wird wohl Erwachsenen-Beistandschaft bekommen

Im Fall des kürzlich gefundenen Mädchens seien wohl mehr Anstrengungen nötig, um das zu erreichen. Der Leiter der Kesb Pfäffikon ZH, Ruedi Winet, sagt zwar, dass mit gezielten Fördermassnahmen Fortschritte in Sprache und Sozialverhalten möglich seien, es jedoch fraglich sei, ob die 17-Jährige jemals ein normales Leben wird führen können. «Ich fürchte, das wird schwierig», so Winet.

Seit dem 3. Mai ist das Mädchen, das gegen Monatsende seine Volljährigkeit erreichen wird, wieder in der Schweiz. Wie es ihr heute geht und wo sie mittlerweile untergebracht wurde, ist nicht bekannt. Auch zum Verbleiben der beiden Schwestern halten sich die Behörden zurück.

Winet geht derweil davon aus, dass das Mädchen eine Erwachsenen-Beistandschaft bekommen wird, da sie keinerlei Anhaltspunkte hat, die es ihr erlauben würden, ihr Leben zu bewältigen. «Sie braucht jemanden, der sie vertritt.»


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