Schwerste Krise seit dem Bürgerkrieg im Libanon
Das legendäre Hotel Palmyra kämpft ums Überleben

Im Libanon fehlt es den Menschen zurzeit an allem: Essen, Strom, Benzin – und den Spitälern gehen die Medikamente aus. Eine Familie ringt im Osten des Landes um den Erhalt des ältesten Hotels der Region, in dem schon Könige und Diven übernachteten.
Publiziert: 19.09.2021 um 15:40 Uhr
Das wohl älteste Hotel des Nahen Ostens: Das Hotel Palmyra in Baalbek im Libanon. Ein Zeitzeugnis, für dessen Erhalt die Besitzer kämpfen.
Foto: Philipp Breu
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Karin A. Wenger (Text) und Philipp Breu (Bilder), Baalbek

Die Zukunft des Libanon sitzt im Dunkeln. Hassan al-Husseini (25) hockt spätabends draussen vor dem Hotel Palmyra, das wie kaum ein anderer Ort die Geschichte des Landes in sich trägt. Ein Zeitzeugnis, 147 Jahre alt, das schon Königsfamilien, Albert Einstein oder den ehemaligen französischen Präsidenten Charles de Gaulle beherbergte.

An diesem Abend Ende August stehen alle 35 Zimmer leer. Kein einziger Gast, wieder einmal. Vor Husseini liegt ein Panorama aus Schwarz, nur eine Kerze brennt. Stromausfall, wieder einmal. Eines Tages möchte er das Hotel von seinem Vater übernehmen – falls es bis dann noch existiert.

Die Voraussetzungen dafür könnten sehr gut sein: Das Hotel liegt in Baalbek, direkt gegenüber von gewaltigen römischen Tempeln, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehören. Doch Baalbek ist elf Kilometer von der syrischen Grenze entfernt – eine Region, die Aussenministerien rot einfärben und mit Reisewarnungen belegen. Und nun kommen noch weniger Touristen, es herrscht eine Pandemie, und das Land steckt in einer der weltweit schlimmsten Wirtschaftskrisen seit 1850 fest.

Doch: Hassan al-Husseini und seine Familie kämpfen für den Erhalt des Hotels.

Foto: Blick Grafik

Der Staat ist pleite

Der Libanon war einst bekannt als Schweiz des Nahen Ostens, wegen der stabilen Banken und hohen Berge. Seit eineinhalb Jahren ist der Staat bankrott. Der Kollaps des Finanzsystems begann im Herbst 2019. Jahrelang hatte der Staat Schulden und Zinsen abbezahlt, indem er sich dafür noch mehr Geld lieh. Dann gingen massenweise Menschen auf die Strasse, um gegen korrupte Politiker zu demonstrieren, und Investoren wurden unsicher. Die Schuldenblase platzte.

Seither zerfällt die libanesische Währung, die Arbeitslosigkeit steigt. Als ob das Leiden nicht schon gross genug wäre, zerstörte vor einem Jahr die wohl grösste nichtnukleare Explosion der Geschichte Teile von Beirut. 200 Menschen wurden getötet, die Schäden belaufen sich auf geschätzte zehn Milliarden Dollar.

Mittlerweile leben laut der Uno fast vier Fünftel der Bevölkerung in Armut. Alles, was Menschen zum Leben brauchen, ist teuer, vieles zudem knapp geworden. Seit diesem Sommer schliessen Spitäler und Bäckereien, Produzenten von abgefülltem Trinkwasser warnen vor Engpässen. Autos stehen still, und die Nächte sind dunkel.

Aufwachsen zwischen Bomben und Schiessereien

Der Libanon war schon fragil, bevor Hassan al-Husseini geboren wurde. Im 15 Jahre dauernden Bürgerkrieg wurde sein Grossvater erschossen. Damals bildeten Religionen, Ideologien und ausländische Interessen ein Wirrwarr von Forderungen und Fronten.
Der Krieg endete 1990, weil es seinem anderen Grossvater, dem damaligen Parlamentssprecher, gelang, einen Friedensvertrag auszuhandeln.

Wirklich stabil wurde das Land nie. Die Wände von Husseinis Schulhaus in der Hauptstadt Beirut zitterten, als 2005 eine Bombe explodierte und den damaligen Ministerpräsidenten samt Entourage tötete. Ein Jahr später flogen israelische Kampfjets Angriffe auf Husseinis Heimatstadt Baalbek. 2008 rannte er mit seiner Schwester durch die Strassen Beiruts, als Anhänger verfeindeter politischer Parteien aufeinander schossen.

Royals und Stars im Hotel

Doch es gab sie, die guten Zeiten. Das Gästebuch des Hotels Palmyra erzählt davon. Das war, als die arabischen Länder in den Europäern noch eine Sehnsucht weckten und diese von Syrien bis Israel reisten.

«Unser Hotel war das allererste im Nahen Osten, erbaut im Jahr 1874», erzählt Ali al-Husseini (62), der Vater von Hassan. Ali holt das dicke Gästebuch aus dem Safe und blättert durch die Hunderten von vergilbten Seiten. Er liest jeden Namen einzeln vor, als wäre es das Wertvollste, was er besitzt. Kaiser Wilhelm II., der iranische Schah Pahlavi, die Sängerinnen Joan Baez oder Nina Simone. Letztere kamen, um auf dem jährlichen Festival in den Ruinen zu spielen.

Ali al-Husseini wuchs wenige Meter neben dem Hotel auf, war mit dem Besitzer befreundet, übernachtete als junger Mann oft im 1. Stock, Zimmer 19. In der kleinen Bar feierte er mit Kollegen und Gästen bis in die Nacht. Als der Besitzer es 1985 aufgeben wollte, konnte er nicht anders, als es zu kaufen. «Es war eine Frage der Nostalgie, dieser Ort ist ein Stück Geschichte», sagt er. Seither betreibt er das Hotel zusammen mit seiner Frau.

Plötzlich knallen Schüsse draussen in der Ferne. «Vielleicht eine Beerdigung, vielleicht ein Streit zwischen Clans oder mit Sicherheitskräften», sagt Ali al-Husseini gleichgültig. Baalbek gehört zum Gebiet der schiitischen Hisbollah, die teilweise als Staat im Staat agiert.

Der Libanon kollabiert

Am nächsten Tag erzählt uns Hassan: Die Schiesserei war an einer Tankstelle ein paar Strassen weiter. Im ganzen Land reihen Menschen ihre Autos schon am Abend zuvor in Hunderte Meter lange Schlangen vor den wenigen noch geöffneten Tankstellen, in der Hoffnung, ein paar Liter Benzin zu ergattern.

Der bankrotte Staat hat kein Geld mehr, um die vor der Küste wartenden Schiffe, die mit Treibstoff beladen sind, zu bezahlen. Einige Tankstellenbetreiber horten das Benzin, um es überteuert auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen oder nach Syrien zu schmuggeln, wo sie noch mehr Bargeld dafür erhalten. Hassan weigert sich, stundenlang zu warten. «Unsere Situation im Land ist schon demütigend genug», sagt er, «ich laufe lieber.»

Der knappe Treibstoff könnte bald Leben kosten. Im öffentlichen Spital von Baalbek, eineinhalb Kilometer vom Hotel entfernt, fehlen die Ärzte manchmal bei der Arbeit, weil auch sie ihr Auto kaum tanken können. Kommt hinzu: Regelmässige Stromausfälle gab es schon vor der Krise, doch nun liefern staatliche Stromanbieter immer weniger pro Tag. Der Spitaldirektor Abbas Shoker (50) lässt wie alle anderen im Land Generatoren laufen. Noch hat er genügend Diesel, andere Spitäler hingegen mussten bereits schliessen.

Noch mehr Sorgen bereiten ihm die leeren Medizinschränke. Selbst gängige Antibiotika oder Schmerzmittel sind zur Mangelware geworden, weil die Preise für Importprodukte durch den Zerfall der Währung explodierten. «Es ist kriminell, das den Leuten anzutun», sagt Shoker.

Mit einem Ruck öffnet sich die Tür seines Büros, ein Mitarbeiter hält ihm eine Quittung hin: «Eine Patientin weint, weil sie die Rechnung nicht bezahlen kann.» Fünf Tage im Spital kosten sie 750'000 libanesische Pfund, umgerechnet 39 Dollar. Vor der Krise wären es 60'000 Pfund gewesen. Shoker streicht den Betrag durch und schreibt 300'000 darunter. «Das sind alles Kinder der Region, was soll ich tun?», fragt er. Dabei fehlt auch ihm so viel Geld, dass er einen Teil des Pflegepersonals nicht mehr bezahlen kann. Das Gesundheitsministerium schuldet den Krankenhäusern Millionen.

Kein Geld für Heizung und Strom

Die Krise trifft die breite Bevölkerung im Libanon schwer. Es sind Menschen wie die Witwe Hanan Raad (37), die kaum mehr wissen, wie sie überleben sollen. Sie wohnt mit ihren Kindern Aline (6), Nadine (12), Céline (13) und Hassan (4) in der Nähe des Hotels Palmyra. Ihr Mann war Mechaniker, das Geld immer schon knapp. Seit er im vergangenen Jahr gestorben ist, kann sie ihre Kinder nur noch ernähren, weil Nachbarn und Freunde Essen vorbeibringen. Der Preis vieler Lebensmittel ist um ein Mehrfaches gestiegen.

Wegen des Strommangels hat sie den Kühlschrank längst ausgeschaltet, auf ihm stapeln sich Schulhefte. Könnte sich Raad etwas wünschen, dann wäre es ein Laptop für ihre Kinder. Wenn diese wegen der Pandemie Fernunterricht haben, müssen sie sich ihr einziges Smartphone teilen. Sie sitzen dann auf den Sofas neben den Wänden, von denen Verputz abfällt, weil Regen oder Schnee durch die Mauern drücken. «Ich habe Angst vor dem Winter», sagt die Mutter. In Baalbek wird es in kalten Nächten unter null Grad, Geld zum Heizen fehlt ihr.

Hanan Raad (37) mit zwei ihrer Töchter: Aline (6) und Céline (13).
Philipp Breu

Die Krise trifft die breite Bevölkerung im Libanon schwer. Es sind Menschen wie die Witwe Hanan Raad (37), die kaum mehr wissen, wie sie überleben sollen. Sie wohnt mit ihren Kindern Aline (6), Nadine (12), Céline (13) und Hassan (4) in der Nähe des Hotels Palmyra. Ihr Mann war Mechaniker, das Geld immer schon knapp. Seit er im vergangenen Jahr gestorben ist, kann sie ihre Kinder nur noch ernähren, weil Nachbarn und Freunde Essen vorbeibringen. Der Preis vieler Lebensmittel ist um ein Mehrfaches gestiegen.

Wegen des Strommangels hat sie den Kühlschrank längst ausgeschaltet, auf ihm stapeln sich Schulhefte. Könnte sich Raad etwas wünschen, dann wäre es ein Laptop für ihre Kinder. Wenn diese wegen der Pandemie Fernunterricht haben, müssen sie sich ihr einziges Smartphone teilen. Sie sitzen dann auf den Sofas neben den Wänden, von denen Verputz abfällt, weil Regen oder Schnee durch die Mauern drücken. «Ich habe Angst vor dem Winter», sagt die Mutter. In Baalbek wird es in kalten Nächten unter null Grad, Geld zum Heizen fehlt ihr.

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Korrupte Strukturen

Egal, wen man im Libanon fragt, die Antwort ist immer dieselbe: Schuld an der Misere sind die Männer an der Macht. Die Krise ist tatsächlich vor allem ein politisches Versagen. 13 Monate lang hatte der Libanon keine Regierung. Erst vergangene Woche schaffte es der Ministerpräsident Najib Mikati, ein neues Kabinett zusammenzustellen. Die Parteien sind gefangen in Machtkämpfen, um Einfluss buhlen sunnitische und schiitische Muslime, christliche Maroniten sowie viele weitere kleinere Gruppen. Das Land am Mittelmeer ist das religiös vielfältigste im Mittleren Osten.

Ali al-Husseini, der als Student kurze Zeit in Leysin VD nahe Montreux lebte, sagt im Hotel Palmyra: «Obschon die Schweizer nicht einmal dieselbe Sprache sprechen, sind sie geeint, eine Willensnation.» Die Libanesen dagegen hätten so vieles gemeinsam, doch die Religion teile sie, sagt er.

Nur in einem einzigen Aspekt kooperieren die Politiker seit Jahrzehnten bestens: der Plünderung des Staates. Eigentlich hätte die internationale Gemeinschaft Hunderte Millionen Dollar Hilfe zusagt, welche aber an Reformen der korrupten Strukturen geknüpft sind.

Diese erlebte Hassan al-Husseini persönlich. Der studierte Umweltwissenschaftler präsentierte dem Energieministerium zusammen mit deutschen Ingenieuren ausgeklügelte Projekte, um Solar- und Wasserstrom zu produzieren. Das Ministerium wollte ihm keine Lizenzen erteilen. Wahrscheinlich, sagt er, weil sie selbst daran nichts verdienen würden. «Es ist frustrierend, besonders wenn man jung ist und Energie hat, etwas zu verändern.» Fast alle seine Freunde haben das Land verlassen. Kluge Köpfe sind derzeit das einzige zuverlässige Exportgut des Libanon.

Die Lösung wäre, findet Hassan, wenn man das Land entlang seiner Grenze ausschneiden, mit einer Bratkelle umdrehen und bei null beginnen könnte.

Die Magie des Hotels

Er selbst ist in der Welt herumgereist und hat andernorts erlebt, wie viele Touristen von den Tempeln, die er jeden Morgen sieht, angelockt werden könnten. Zurzeit besuchen laut der Gemeinde Baalbek weniger als hundert Personen pro Monat die römischen Ruinen, die allermeisten als Tagestouristen. Sind im Hotel mehr als zwei Zimmer belegt, ist das ein guter Tag. Hassan al-Husseini aber will Leben zurück in die alten Mauern bringen. Im Anbau beim Garten möchte er eine Künstlerresidenz bauen, auf der Terrasse eine Bar. «Alles, was ich sehe, ist viel Potenzial», sagt er.

Der Staat rundherum ist am Zerfallen, doch im Hotel Palmyra sind die Erinnerungen an die Blütezeit des Landes immer noch stark, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Diesen Ort wollen seine Eltern um jeden Preis erhalten, obschon es ein Verlustgeschäft ist. «Hätten wir kein anderes Einkommen durch die Landwirtschaft und den Anbau von Weintrauben ...», sagt Ali und bricht den Satz ab.

Vielleicht hat die Magie schon Albert Einstein gespürt, als er ins Gästebuch schrieb: «Existiert die Zeit? Ich bestreite es.» Das Hotel Palmyra hat Kriege und Krisen überstanden, und jetzt überlebt es nur noch, weil die Familie Husseini daran festhält.

Mitarbeit: Hassan Shreif

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