Rückzug könnte nur ein Trick sein
Locken Putins Truppen die Ukrainer in die Cherson-Falle?

Die Russen ziehen sich weiter aus der Region Cherson zurück und mit ihnen, Tausende Zivilisten, die umgesiedelt werden. Geben Putins Truppen tatsächlich kampflos das Gebiet auf? Die Ukrainer wittern eine Falle.
Publiziert: 04.11.2022 um 15:57 Uhr

Es sieht nicht gut aus für Putins Truppen. Die Ukrainer sind auf dem Vormarsch und sind dabei Stück für Stück ihre Heimat zurückzuerobern. Das nächste Ziel: die gesamte Region Cherson. Die Russen hatten zu Beginn des Krieges gerade dort Land gewinnen können.

Vergangenen Monat annektierte Russland die von ihm eroberten Gebiete. Jetzt ziehen sich Putins Truppen mehr und mehr aus der Region zurück. Nicht nur die Soldaten werden abgezogen, auch die ukrainischen Zivilisten müssen mit.

«Werden uns zurückziehen»

«Unsere Streitkräfte werden sich vermutlich auf die linke Seite des Flusses zurückziehen. Alle Menschen, die es bisher nicht geschafft haben, aus Cherson wegzugehen, müssen das schleunigst tun», sagte der eingesetzte Vizeverwaltungschef Kirill Stremousow am Donnerstag.

Die Russen evakuieren immer wieder Zivilisten aus der Region Cherson.
Foto: IMAGO/SNA
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Laut den Russen wurden schon rund 70'000 evakuiert. Und es sollen noch mehr werden. Das ukrainische Aussenministerium in Kiew erklärte am Donnerstag, die russische Besatzungsverwaltung habe damit begonnen, Bürger aus der Region Cherson auf die annektierte Halbinsel Krim oder nach Russland zu bringen.

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Der von Moskau eingesetzte Gouverneur von Cherson, Wladimir Saldo (66), begründete dies mit dem Risiko «massiver Raketenangriffe» der vorrückenden ukrainischen Armee. Die Ukraine wertete dies hingegen als «Deportationen» ihrer Bürger durch Russland.

«Dilemma zwischen militärischer und politischer Logik»

Am Donnerstag verschwand die russische Flagge, die auf dem Verwaltungsgebäude in der Stadt Cherson wehte. Ein Zeichen für den Abzug? Für die ukrainische Journalistin Natalia Humenjuk sei dies eher ein Täuschungsmanöver. «Wir sollten uns nicht zu früh freuen», sagte sie laut der Nachrichtenagentur RBC-Ukraine.

Denn die Russen würden nicht einfach so kampflos aufgeben und schon gar nicht die Region Cherson. «Es handelt sich um gewisse Provokationen, die den Eindruck erwecken sollen, dass bewohnte Gebiete aufgegeben wurden und dass es sicher ist, sie zu betreten.»

Hohe symbolische Bedeutung

Putins Truppen konnten die Stadt gleich zu Beginn des Krieges einnehmen. Eine Rückeroberung wäre für die Ukraine auch von hoher symbolischer Bedeutung.

Putins Truppen stecken in der Klemme. «Es handelt sich um ein klassisches Dilemma zwischen militärischer und politischer Logik», sagte Strategieexperte Marcel Berni (34) von der Militärakademie an der ETH Zürich Mitte Oktober zu Blick. Militärisch sei es schwer, die besetzten Gebiete in Cherson zu halten. Doch Russland steht unter Druck. Es geht um Prestige.

Eliteeinheiten werden in das Gebiet verlegt

Tatsächlich bereiten sich Putins Truppen offenbar auf eine grosse Schlacht vor. Zwar sei es nach wie vor unklar, ob tatsächlich um die Stadt Cherson gekämpft werde. Doch laut dem Institute for the Study of War (ISW) errichten die Russen – trotz der Aussage von Stremousow – nordwestlich der Stadt Verteidigungspositionen und würden zudem weitere Soldaten dorthin verlegen. Darunter auch Eliteeinheiten der Luftlandetruppen und Marineinfanterie. Rückzug sieht anders aus.

Die Russen würden sich zwar wirklich darauf vorbereiten, so schnell wie möglich das Gebiet verlassen zu können, erklärt Kyrylo Budanow (36) vom ukrainischen Verteidigungsministerium im Interview mit «Ukrayinska Pravda». Aber wohl als nur letzte Möglichkeit, um im Notfall abhauen zu können. «Die Russen erwecken dein Eindruck, dass alles verloren sei. Gleichzeitig stellen sie neue Militäreinheiten auf und bereiten die Strassen der Stadt auf die Verteidigung vor», so Budanow.

Putins Truppen hätten Angst, eingekesselt zu werden, so wie die Ukrainer in Mariupol. Ukrainische Soldaten hatten sich über Wochen im Asow-Stahlwerk verschanzt und versucht, die Stellung zu halten. Am Ende mussten sie sich geschlagen geben. (jmh)

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