Rakete schlägt in Gebäude ein
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Militäroperation von langer Hand geplant
So funktioniert Putins Kriegstaktik

Über Monate hat der russische Präsident seine Invasion in die Ukraine vorbereitet. Nun ist er mit seinen Truppen einmarschiert. Mehr geht nicht, sagt ein Sicherheitsforscher.
Publiziert: 24.02.2022 um 20:45 Uhr
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Aktualisiert: 24.02.2022 um 21:56 Uhr
Fabienne Kinzelmann

Am Donnerstagmorgen begann Wladimir Putin einen koordinierten Angriff auf ukrainische Militäranlagen und Flugplätze mit Marschflugkörpern und ballistischen Raketen. Zuvor hatte er in einer Fernsehansprache eine «Sondermilitäroperation» angekündigt.

«Das ist eine voll mechanisierte, durchweg militarisierte Invasion eines Nachbarstaates aus verschiedenen Richtungen mit dem Ziel, die politische Existenz dieses Staats zumindest infrage zu stellen», sagt der Sicherheitsforscher Niklas Masuhr vom Center for Security Studies an der ETH Zürich, der Putins Truppenbewegungen beobachtet. «Wir sehen einen maximalen Einmarsch, bei dem nicht nur von der Krim und von den ukrainischen Nord- und Ostgrenzen aus eingedrungen wird, sondern auch aus dem Nordwesten von Belarus und direkt in Richtung Kiew.»

Das lege nahe, dass Putin «maximale Ziele» verfolge und direkt auf die Existenz des ukrainischen Staates abziele. Was Putin genau will, ist jedoch unklar. Ukrainische Gebiete hat er – ausser der Krim 2014 – bislang nicht offiziell beansprucht. Möglich wäre auch, dass er etwa eine von Russland geführte Marionettenregierung einsetzen will.

Rauch nach einer russischen Attacke auf eine Flugabwehrbasis in Mariupol (Ukraine).
Foto: keystone-sda.ch
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Die Invasion hat Putin lange vorbereitet. «Russland hat durch die Unterstützung von Separatisten in der Ostukraine bereits die letzten acht Jahre indirekt Krieg gegen die Ukraine geführt. Seit November wissen wir, dass die glaubhafte Chance auf einen russischen Einmarsch besteht», sagt Masuhr. Mit den Attacken ab dem frühen Donnerstagmorgen, die bereits Dutzende Tote und Verletzte gefordert haben, sei der offene Kriegszustand erreicht.

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Rede war de facto eine Kriegserklärung

Die vergangenen zwei Wochen hat Putin genutzt, um Vorwände für den Einmarsch zu konstruieren. Am Montag etwa sprach er der Ukraine in einer im TV übertragenen Sitzung mit seinem Sicherheitsrat das Existenzrecht ab. Doch offen von einem Krieg spricht er selbst jetzt nicht.

Putin, der Taktiker, weiss warum: Die UN-Charta von 1945 ächtet «Krieg». «Im Völkerrecht ist nur noch vom ‹bewaffneten Konflikt› die Rede», erklärt der Schweizer Militärexperte Mauro Mantovani. Gemäss Völkerrecht sei Gewalt ausschliesslich zum Zweck der Selbstverteidigung und/oder im Rahmen kollektiver Zwangsmassnahmen zulässig, welche der UN-Sicherheitsrat beschliesst. «Auf Ersteres beruft sich Putin – wie viele Aggressoren vor ihm», sagt Mantovani.

In seiner Rede sprach Putin von «fundamentalen Bedrohungen (...) gegen unser Land». Dem Westen warf er mit Blick auf die Nato-Osterweiterung «zynischen Betrug und Lüge», «Druck- und Erpressungsversuche» und eine «Kriegsmaschinerie» vor.

Er werde nun den von Russland anerkannten selbsternannten «Volksrepubliken» Luhansk und Donezk zu Hilfe eilen. Ziel der Sondermilitäroperation sei «der Schutz der Menschen, die seit acht Jahren Misshandlung und Genozid ausgesetzt sind. Und zu diesem Zweck werden wir uns um die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine bemühen und diejenigen vor Gericht stellen, die zahlreiche blutige Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, einschliesslich der Bürger der Russischen Föderation, begangen haben ...»

«Das russische Militär kann das tatsächlich»

Putin und sein Macht- und Medienapparat behaupten seit langem, dass in der Ukraine «Nazis» und «radikale Nationalisten» ungehindert wüteten. Diese Behauptung spielte auch bei der Annexion der Krim 2014, bei der Landnahme in der Ostukraine durch prorussische Separatisten sowie dem damals verdeckten Militäreinsatz eine Rolle.

Die Invasion stellt den Westen vor eine Herausforderung. Die Provokationen an der Grenze, die Leugnung des Einmarsches haben eine Reaktion in den vergangenen Wochen erschwert. Nun bomben Putins Truppen mitten im Land.

«Das russische Militär zeigt, dass es das, was es die letzten Jahre geübt hat, tatsächlich kann», sagt Sicherheitsforscher Masuhr. Moskau habe so weit mobilisiert und so viel militärisches Potenzial aufgefahren, dass sich die Ukrainer kaum noch wehren können. «Die Russen sind auf der Krim, sie sind im Donbass, im Norden, im Nordosten und in Belarus. Die ukrainische Armee hingegen ist zentral im Osten stationiert.» Bei der Verteidigung habe die Ukraine geografische Nachteile.

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Sorge vor Einsatz von Atomwaffen

Die Situation ist brenzlig. Die schwedische Friedensnobelpreisträgerin Beatrice Fihn (40), Direktorin der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, warnt in einem Gastbeitrag für «Politico» auch vor einer nuklearen Eskalation – absichtlich oder unabsichtlich: «Plötzlich entfaltet sich das ‹Undenkbare› vor unseren Augen. So wird aus einem regionalen Konflikt ein globaler Albtraum.»

Ein Szenario, das auch dem ETH-Sicherheitsexperten Benno Zogg Sorge bereitet: «Allein schon, dass Nuklearangriffe nicht ins Spiel kommen, ist das Ziel.» Er befürwortet es, dass der Westen diplomatische Kanäle so weit wie möglich offen hält.

«Im Moment ist allerdings die Frage, ob noch irgendjemand Putins Ohr hat – ausser vielleicht absolute Hardliner vom Militär, welche die militärische Logik verfolgen. Von der politischen Logik hat sich Putin verabschiedet», so Zogg zu Blick TV.

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