60 Prozent der Briten halten Brexit für Fehlentscheid
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Umfrage im Januar 2023:60 Prozent der Briten halten Brexit für Fehlentscheid

Keine Ambulanzen, langes Warten – Gesundheitssystem vielerorts vor dem Kollaps
Briten wollen zurück in die EU

Die Zustimmung zu einem EU-Wiedereintritt ist in Grossbritannien in einer Woche um 4 auf 61 Prozent hochgeschnellt. Dennoch: So schnell werden die Briten nicht wieder Mitglied sein.
Publiziert: 24.04.2023 um 18:37 Uhr
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Aktualisiert: 25.04.2023 um 10:32 Uhr
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Guido FelderAusland-Redaktor

Immer mehr Briten bereuen den Austritt aus der EU. Die jüngste Umfrage des Marktforschungsinstituts Omnisis zeigt, dass 61 Prozent wieder der EU beitreten wollen. Das sind vier Prozent mehr als bei der letzten Umfrage vor einer Woche. Die Briten hatten den Brexit 2016 mit einer Mehrheit von knapp 52 Prozent beschlossen.

Der Brexit hat viele Strukturprobleme des Landes verschärft. Dazu zählen unter anderem eine grosse Abwanderung, ein Rückgang von Investitionen sowie erhöhte Hürden beim Aussenhandel. Ina Habermann (57), Grossbritannien-Expertin an der Uni Basel, sagt gegenüber Blick: «Die internationalen Freihandelsabkommen, von denen man sich so viel erhoffte, sind bisher nicht zustande gekommen.»

Essen oder heizen

Das Land ist in die Armut abgestürzt. «Viele Menschen müssen entscheiden, ob sie essen oder heizen», sagt Habermann. Die Regierung hat in diesen Tagen mitgeteilt, dass sie über den Winter 130 Millionen Pfund (144 Millionen Franken) «Kaltwetterzahlungen» an fünf Millionen Haushalte in England und Wales überwiesen habe. Die Inflation betrug im Februar 10,4 Prozent – so viel wie nirgends in Westeuropa.

Die freundliche Miene ist zurück: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Rishi Sunak bei einem Treffen Ende 2022 in Ägypten.
Foto: Getty Images
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Chaotische Zustände herrschen auch beim Gesundheitssystem NHS. Habermann: «Der NHS steht vielerorts vor dem Kollaps. Es gibt Krankheiten und Todesfälle, unter anderem deshalb, weil keine Ambulanzen kommen oder die Patienten viele Stunden vor den Kliniken warten müssen.»

Nachdem die Corona-Pandemie die Brexit-Folgen eine Weile verschleiert hatte, machen sie sich mit dem Krieg in der Ukraine mit doppelter Wucht bemerkbar. «Die Bevölkerung hat realisiert, dass sich die mit dem Brexit verbundenen Versprechen zumindest kurz- bis mittelfristig nicht erfüllen werden», sagt Habermann. Auch hätten sich die Brexit-Treiber – allen voran der ehemalige Premierminister Boris Johnson (58) – durch politische Inkompetenz und persönliches Fehlverhalten diskreditiert.

Brüssel buhlt um Rückkehr

Nach der jüngsten Umfrage twitterte der ehemalige belgische Premierminister Guy Verhofstadt (70), der auch Chefunterhändler des EU-Parlaments für den Brexit war, spöttisch: «Beeindruckendes Resultat… und sehr bezeichnend für die Stimmung im Land. Der Brexit hat alle im Stich gelassen. Zeit zum Wiedereinstieg!»

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Immer wieder betonte Brüssel, dass man eine Rückkehr Grossbritanniens in die EU begrüssen würde. Michel Barnier (72), ehemaliger Chefunterhändler der EU-Kommission für den Brexit, sagte Anfang Jahr: «Die Tür auf EU-Seite wird jederzeit offen stehen – für Sie und einige andere.» Damit meinte er explizit die Schweiz und Norwegen.

Vorderhand keine Rückkehr

Einen Wiedereintritt sieht Ina Habermann vorderhand aber nicht kommen. «Da gibt es noch zu viele einflussreiche Kräfte im Land, die das mit allen Mitteln verhindern wollen. Und auch die Labour-Partei, die bisher wenig Kapital aus den Problemen der konservativen Regierung schlagen konnte, ist nicht durchgängig proeuropäisch.» Zudem sei mit dem überraschenden Rücktritt der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon (52) eine starke Stimme für die schottische Unabhängigkeit und den Pro-EU-Kurs verstummt.

Habermann glaubt an eine langsame Wiederannäherung in kleinen Schritten. «Denkbar scheint mir ein Prozess, dass – wenn etwas Gras über den Austritt gewachsen ist – Zollerleichterungen und dergleichen vereinbart werden, um die schlimmsten Folgen abzumildern und die Situation für die Wirtschaft zu erleichtern.»

Zeichen der Wiederannäherung gibt es einige, so etwa der Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (64) im Zusammenhang mit dem Nordirland-Kompromiss. Zudem sorgt auch der russische Präsident Wladimir Putin (70) für intensivere Kontakte zwischen London und Brüssel: Sein Krieg in der Ukraine hat nämlich die westlichen Länder – statt wie von ihm erwartet gespalten – noch mehr zusammengeschweisst.

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