Historiker über die Mär von Russlands Anspruch auf die Ukraine
«Putin verdreht die Geschichte auf absurde Weise»

Frithjof Benjamin Schenk (51), Professor für Osteuropäische Geschichte, erklärt im Interview, wieso Russlands historischer Anspruch auf die Ukraine Geschichtsverfälschung sei. Und wieso er das Miteinander in Europa für gefährdet hält.
Publiziert: 23.02.2022 um 00:19 Uhr
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Aktualisiert: 23.02.2022 um 17:01 Uhr
Interview: Karin A. Wenger

Frithjof Benjamin Schenk (51) ist seit 2011 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. Der deutsche Historiker hat sich die ganze Rede von Wladimir Putin auf Russisch angehört. Beim Interview mit Blick ist ihm deutlich anzuhören, dass er immer noch kaum glauben kann, was gerade passiert in der Ukraine.

Blick: Putin hielt im russischen Fernsehen eine lange Rede, in der er von einem historischen Anspruch Russlands auf die Ukraine sprach.
Frithjof Benjamin Schenk: Genau, er sagte, die heutige Ukraine sei in ihrer ganzen Existenz eine Schöpfung Russlands. Diese These vertrat er schon früher. Putin verdreht damit die Geschichte auf absurde Art und Weise. Mich schockierte beim Zuhören, dass es Putin nicht bloss um Details ging oder um seine Forderungen an den Westen und an die Ukraine. Er sprach der Ukraine schlichtweg die Existenzberechtigung ab, das macht mich sprachlos. Die Art und Weise, wie er es formulierte, kann man nur als offene Kriegserklärung interpretieren.

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Foto: ANNA SCHMIDT PHOTOGRAPHIE
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Können Sie den geschichtlichen Hintergrund genauer erklären?
Putin behauptet, die Ukraine als Staat sei von Wladimir Lenin erschaffen worden. Er weist darauf hin, dass Lenin die Sowjetunion als Föderation nationaler Unionsrepubliken gründete, und eine davon war die Ukraine. Putin hält es für einen grossen Fehler Lenins, dass er das Russische Reich nach nationalen Prinzipien neu strukturierte. Er sagt, dies habe den Keim gelegt für den Nationalismus, der 1991 zum Zerfall der Sowjetunion führte.

Und was verdreht er genau an der Geschichte?
Am Anfang der ukrainischen Staatlichkeit steht nicht Lenin, sondern eine Nationalbewegung, wie es sie im 19. Jahrhundert an vielen Orten Europas gab. Zunächst ging es dieser Bewegung um Autonomie innerhalb des Russischen Reichs. Im Ersten Weltkrieg, als im östlichen Europa die Grossreiche zerfielen, entstanden Ideen der Neuordnung der Landkarte und der Unabhängigkeit neuer Staaten. Diese geschichtliche Entwicklung ignoriert Putin komplett.

Der Russland-Kenner

Frithjof Benjamin Schenk wurde 1970 in Stuttgart geboren. Er studierte zwischen 1991 und 1998 in Marburg, St. Petersburg und Berlin. Darauf folgten Forschungsaufenthalte in St. Petersburg und Moskau. Der 51-Jährige ist seit 2011 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel.

Frithjof Benjamin Schenk wurde 1970 in Stuttgart geboren. Er studierte zwischen 1991 und 1998 in Marburg, St. Petersburg und Berlin. Darauf folgten Forschungsaufenthalte in St. Petersburg und Moskau. Der 51-Jährige ist seit 2011 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel.

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Glaubt denn Putin selbst an das, was er sagt?
Ich war lange Zeit skeptisch, aber in dieser Rede wurde deutlich: Putin lebt in seiner eigenen Realität. Er leitet die Zukunft seines Landes von einem verzerrten Bild der Vergangenheit ab. Offenbar fehlt ihm eine andere Vision. Er fühlt sich offensichtlich einer historischen Mission verpflichtet. Sanktionen des Westens schrecken ihn nicht. An Verhandlungen hat er kein Interesse. Das ist erschreckend.

Wieso?
Weil westliche Politiker immer noch glauben, sie könnten mit Dialog etwas erreichen. Es gibt aus meiner Sicht keine Grundlage mehr für Gespräche. Putin hat die Grundlage des Völkerrechts, Fundament der europäischen Friedensordnung, ganz bewusst verlassen.

Sie klingen sehr besorgt.
Ich beschäftige mich seit fast 30 Jahren mit Russland und fühle mich dem Land eng verbunden. Die neusten Nachrichten lassen mich wirklich schlecht schlafen. Was gerade passiert, hat welthistorische Dimensionen.

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Ist das nicht etwas übertrieben?
Nein, es geht um viel mehr als die Ukraine. Der Frieden in Europa basiert darauf, dass wir uns vertraglich darauf geeinigt hatten, die Grenzen der anderen Staaten zu akzeptieren und zu schützen. Ich denke an die Uno-Charta von 1945, an die Schlussakte von Helsinki 1975 oder das Budapester Memorandum von 1994. Putin hat alle diese Verträge gebrochen.

Das hat er 2014 bei der Annexion der Krim auch schon gemacht.
Ja, gewisse Dinge wiederholen sich. Aber jetzt geht er einen Schritt weiter: Er stellt die Ukraine als souveränen Staat grundsätzlich in Frage und schickt Truppen auf deren Hoheitsgebiet. Putin träumt von einem Treffen der Grossmächte, die ihre Interessensphären in Europa abstecken und den Kontinent unter sich aufteilen. Das wirft uns zurück ins 19. Jahrhundert.

Haben Sie Hoffnung auf eine baldige Lösung?
Ich sehe aktuell leider keine Anzeichen für eine positive Entwicklung, nur unterschiedliche Worst-Case-Szenarios. Wir müssen im Westen anerkennen, dass das Miteinander in Europa grundsätzlich infrage gestellt ist. Ich bin wirklich ratlos, was in den kommenden Wochen auf uns zukommt.

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