Geheime Kreml-Papiere alarmieren Experten
Es braucht wenig, bis Putin den Atom-Knopf drückt

Russland könnte viel schneller zum Atomkrieg blasen, als bisher angenommen. Das zeigen geheime Dokumente, die offenbar in die Hände eines westlichen Geheimdiensts gelangt sind. Was du zu einem potenziellen russischen Atomschlag wissen musst.
Publiziert: 28.02.2024 um 16:16 Uhr
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Aktualisiert: 28.02.2024 um 19:21 Uhr
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Chiara SchlenzAusland-Redaktorin

Wann wird Kremlchef Wladimir Putin (71) auf den Atom-Knopf drücken? Eine Antwort gibt es nicht, die Unwissenheit treibt westliche Staaten um. Bis heute: Die britische Zeitung «Financial Times» erhielt Einblick in geheime, russische Dokumente, die genau diese Frage beantworten.

Alexander Gabuev, Direktor des Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin: «Die Dokumente zeigen, dass die operative Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen ziemlich niedrig ist, wenn das gewünschte Ergebnis nicht mit konventionellen Mitteln erreicht werden kann.» Müssen wir uns also auf einen Atomkrieg mit Russland vorbereiten? Blick beantwortet dir die wichtigsten Fragen.

Was steht in diesen Dokumenten?

«Financial Times» hat von anonymen «westlichen Quellen» Einblick in eine Reihe geheimer Dokumente der russischen Streitkräfte über «hypothetische Invasionsszenarien Chinas» erhalten. Heisst also: Es geht grundsätzlich um die russische Strategie im Falle eines Angriffs von China. Sie zeigen, dass Russland trotz seiner wachsenden «Freundschaft» mit China dem Land noch immer grosses Misstrauen entgegenbringt.

Wann zündet Russland eine Atombombe? Die «Financial Times» warnt: Schneller, als bisher angenommen.
Foto: keystone-sda.ch

In diesen Dokumenten geht es aber auch um Einzelheiten zur russischen Doktrin über den Einsatz von Atomwaffen. Sie geben Einblick in das russische Verständnis der Atomwaffen als Pfeiler der eigenen Verteidigung – und wie Russland seine Truppen auf den Einsatz solcher Waffen vorbereitet. Und das lässt aufhorchen.

Wieso sind Experten deswegen so besorgt?

Die Dokumente enthüllen, dass ein Atomkrieg mit Russland sehr viel wahrscheinlicher ist, als bisher angenommen. Der britischen Zeitung zufolge enthüllen die Dokumente nämlich eine «niedrigere Schwelle für den Einsatz taktischer Nuklearwaffen», als Russland öffentlich zugibt. Die Moskauer Militärdoktrin würde insbesondere «den Einsatz taktischer Atomwaffen in der Vorphase eines Konflikts mit den grossen Weltmächten» vorsehen.

Russlands Hemmschwelle für den Einsatz von Atomwaffen ist viel tiefer als bisher angenommen.
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Zusammenfassend sagen die Dokumente: Wenn Russland so viele Truppen verliert, dass es eine «grössere feindliche Aggression nicht aufhalten könnte» oder wenn 20 Prozent der russischen U-Boote mit Atomwaffen, 30 Prozent der atomgetriebenen U-Boote, drei oder mehr Kreuzer, Flugplätze oder Kommandozentralen an der Küste zerstört werden – dann ist der Einsatz von Atomwaffen für die russische Regierung gerechtfertigt.

Zwar drehen sich die Szenarien in den 29 Dokumenten meist um einen angenommenen Angriff Chinas, doch Experten gehen gegenüber «Financial Times» davon aus, dass man diese Bedingungen auch auf Angriffe von anderen Ländern übertragen kann.

Was sagt Russland über den Einsatz von Atomwaffen?

Vergangenes Jahr sagte Kremlchef Putin, dass die russische Nukleardoktrin zwei mögliche Schwellenwerte für den Einsatz von Atomwaffen zulässt: Vergeltung für einen nuklearen Erstschlag eines Feindes und wenn «die Existenz Russlands als Staat bedroht ist, selbst wenn konventionelle Waffen eingesetzt werden». Er fügte allerdings hinzu, dass keines dieser beiden Szenarien aktuell realistisch sei.

Trotzdem üben russische Truppen regelmässig für einen Atomschlag. Im Juni und November vergangenen Jahres fanden Militärübungen an der russischen Grenze zu China statt, bei der auch nuklearfähige Iskander-Raketen zum Einsatz kamen.

Experten gehen ebenfalls davon aus, dass Russland Atomwaffen auch als «Eskalation zur Deeskalation» verwenden könnte. Mithilfe des sogenannten «Angstanreizes» würde Russland versuchen, einen Konflikt zu seinen eigenen Bedingungen zu beenden. Das, indem es den Gegner mit dem frühzeitigen Einsatz einer kleinen Atomwaffe schockiert – oder durch die Androhung eines solchen Einsatzes eine Einigung herbeiführt.

Stehen wir kurz vor dem Atomkrieg?

Nein. Die Ukraine hat zwar wichtige russisches Kriegsschiffe zerstört und auch russisches Territorium angegriffen, allerdings nicht in dem Ausmass, das in den Dokumenten als Bedingung für einen Atomschlag genannt wird. Irritierend ist aber die Aussage des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron (46), dass er die Stationierung westlicher Truppen in der Ukraine nicht ausschliesse. Das würde beteiligte Nationen zu Kriegsparteien und somit zu legitimen Zielen russischer Vergeltung machen.

William Alberque, Direktor der US-Denkfabrik IISS, sagte aber zu «Financial Times», dass Russlands Schwelle für einen Einsatz nuklearer Waffen im Zusammenhang mit der Ukraine sehr viel höher sei, als bei anderen potenziellen Konflikten. Das liegt daran, dass die Ukraine keine eigenen Atomwaffen besitzt.

Während ein Atomschlag gegen China oder die USA «einschüchternd» sein könnte, würde ein Atomschlag gegen die Ukraine den Konflikt wahrscheinlich eskalieren lassen. Es könnte auch zu einem direkten Eingreifen der USA oder Grossbritanniens führen, so Alberque. «Das ist absolut das Letzte, was Putin will.»

Dazu kommt: In verschiedenen Kommentaren wird spekuliert, ob das «Leak» dem Kreml vielleicht sogar hilft. Denn Putin profitiert von der Angst vor einem Atomkrieg. 

Wie gross ist Russlands Atom-Arsenal?

Russland ist derzeit die grösste Atommacht der Welt. Von den rund 12'500 Atomwaffen auf der Welt gehören 5889 den Russen, wie das Nuclear Notebook des «Bulletin of the Atomic Scientists» festhält. Wenn sich Russland für einen Atomschlag gegen den Westen entscheidet, können sich Europa und die USA nicht wehren. Dafür müsste vor allem Europa sein atomares Arsenal aufstocken, erklärt Liviu Horovitz (40), Nato- und Nuklearexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, vor einigen Wochen gegenüber Blick.

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Denn Grossbritannien und Frankreich sind die einzigen beiden anderen Nato-Mitglieder, die Atomwaffen besitzen. Die beiden Länder gehören neben den USA, Russland und China zu den fünf offiziellen Atomwaffenstaaten. «Die Sprengköpfe genügen den Franzosen und Briten, um ihre eigenen Länder zu schützen. Wenn es aber um den Schutz von weiteren Ländern geht, ist die Anzahl und Zusammensetzung im Vergleich zu Russland zu wenig.»

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