Weil Vermieter tiefere Zinskosten nicht weitergeben
Mieter bezahlen im Schnitt jeden Monat 200 Franken zu viel

Die Einnahmen aus Immobilien sind deutlich höher, als sie laut Mietrecht sein dürften. Seit 2006 wurden dadurch 78 Milliarden Franken zu Unrecht umverteilt, wie eine neue Studie zeigt.
Publiziert: 27.02.2022 um 01:37 Uhr
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Aktualisiert: 28.02.2022 um 09:09 Uhr
Thomas Schlittler

Boden ist beschränkt, der Immobilienmarkt deshalb kein Markt wie jeder andere: Einerseits kann das Angebot nicht beliebig erhöht werden, andererseits bleibt die Nachfrage selbst dann bestehen, wenn die Auswahl eigentlich unattraktiv ist – ein Dach über dem Kopf braucht schliesslich jeder.

Die schweizerische Bundesverfassung trägt dieser Besonderheit gleich mehrfach Rechnung. Artikel 41 besagt: «Bund und Kantone setzen sich (...) dafür ein, dass Wohnungssuchende für sich und ihre Familie eine angemessene Wohnung zu tragbaren Bedingungen finden können.» Artikel 109 verlangt zudem, dass der Bund Vorschriften «gegen missbräuchliche Mietzinse» erlässt.

Als «missbräuchlich» gilt gemäss Obligationenrecht, wenn aus der Mietsache ein «übersetzter Ertrag» erzielt wird. Was ein «übersetzter Ertrag» ist, definierte das Bundesgericht in einem Urteil aus dem Jahr 2020: Die Nettorendite darf maximal zwei Prozent über dem Referenzzinssatz liegen – bei einem aktuellen Zinssatz von 1,25 Prozent beträgt die maximal zulässige Nettorendite für Immobilienbesitzer demnach 3,25 Prozent.

Konkret heisst es in der bisher unveröffentlichten Studie, die SonntagsBlick vorliegt: «Eine Betrachtung über die gesamte Periodendauer von 16 Jahren zeigt, dass Mieterinnen und Mieter insgesamt 78 Milliarden Franken mehr Miete bezahlt haben als gemäss theoretischer Miete ausgewiesen.» Für jede Wohnung entspreche dies einer durchschnittlichen Umverteilung von Mietenden zu Vermietenden von 200 Franken pro Monat.
Foto: Philippe Rossier
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Kurz: Vermieter dürfen für ihre Wohnungen nicht einfach verlangen, was sie wollen – selbst wenn sie jemanden finden, der bereit ist, das zu bezahlen.

Vermieter nehmen Mieter aus

So viel zur Theorie. Die Praxis sieht anders aus, wie eine Untersuchung des Büros für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS) zeigt. Die bisher unveröffentlichte Studie, die SonntagsBlick vorliegt, kommt zum Schluss, dass die Mieten in der Schweiz zwischen 2006 und 2021 deutlich stärker stiegen, als aufgrund der Entwicklung der wichtigsten Kostenfaktoren – Hypothekarzinsentwicklung, Inflation und Unterhaltskosten – zu erwarten gewesen wäre.

Konkret heisst es in der Studie: «Eine Betrachtung über die gesamte Periodendauer von 16 Jahren zeigt, dass Mieterinnen und Mieter insgesamt 78 Milliarden Franken mehr Miete bezahlt haben als gemäss theoretischer Miete ausgewiesen.» Für jede Wohnung entspreche dies einer durchschnittlichen Umverteilung von Mietenden zu Vermietenden von 200 Franken pro Monat. «Alleine für das Jahr 2021 beträgt die geschätzte Umverteilung schweizweit 10,4 Milliarden Franken», so die Studienautoren weiter.

In Auftrag gegeben wurde die Untersuchung vom Schweizerischen Mieterinnen- und Mieterverband. Dessen Generalsekretärin Natalie Imboden (51) sieht ihre Auffassung durch die Ergebnisse bestätigt: «Die Untersuchung belegt, was wir seit Jahren sagen: Die Mietzinsen in der Schweiz sind in vielen Fällen missbräuchlich hoch.» Die Politik müsse deshalb dafür sorgen, dass das Mietrecht von den Immobilienbesitzern endlich eingehalten werde.

Hauseigentümmerverband findet Aufschläge gerechtfertigt

Markus Meier (60), Direktor des Hauseigentümerverbands Schweiz (HEV), sieht das naturgemäss anders. Er bezeichnet die BASS-Studie als «Parteigutachten» und kritisiert, dass die Untersuchung zentrale Faktoren des geltenden Mietrechts vernachlässige, so etwa wertvermehrende Investitionen und energetische Verbesserungen. «Diese Kosten fallen ganz massiv ins Gewicht – und durch diese Investitionen geschaffene Mehrwerte rechtfertigen gemäss Mietrecht Mietaufschläge.»

Zusätzlich weist der HEV darauf hin, dass nach dem Willen des Gesetzgebers der Markt bei Neuvermietungen nicht vollständig ausgehebelt werde. Meier: «Die Anfangsmietzinsen richten sich nicht nach der Kostenentwicklung der Vergangenheit, sondern werden von den Parteien neu festgelegt. Für die Überprüfung sind die Rendite oder der Vergleich mit den orts- und quartierüblichen Mieten massgebend.»

Da der Mietpreisindex, auf den sich die Studie beziehe, auch neu abgeschlossene Mietverträge berücksichtige, sei er nicht aussagekräftig für einen Vergleich mit den mietrechtlich vorgeschriebenen Grundsätzen für Mietzinsanpassungen.

Der Mieterverband wehrt sich gegen den Versuch, die Seriosität der Studie infrage zu stellen. «Die Sanierungsquote beträgt ein Prozent pro Jahr – und diese Sanierungen sind im Mietpreisindex auch entsprechend ihrem Anteil abgebildet», hält Imboden fest.

Überraschende Unterstützung

Schützenhilfe erhält der Mieterverband von unerwarteter Seite: der drittgrössten Bank des Landes. Martin Neff (61), Chefökonom der Raiffeisen-Gruppe, sagt zur geschätzten Umverteilung von 78 Milliarden Franken zugunsten der Vermieter: «Das ist wohl eher am oberen Limit, grundsätzlich sind die Berechnungen der Studienautoren aber nachvollziehbar und plausibel.» Raiffeisen komme zu ähnlichen Ergebnissen. Für Neff steht ausser Frage, dass die tieferen Zinskosten von den Vermietern nur ungenügend an die Mieter weitergegeben werden. «Die Mieter in der Schweiz bezahlen Jahr für Jahr Milliarden zu viel», sagt er.

Bei den Schlüssen, die aus dieser Erkenntnis zu ziehen sind, geht der Ökonom mit dem Mieterverband allerdings nicht einig. Neff ist der Meinung, dass die Mieter zu einem grossen Teil selbst für ihr Schicksal verantwortlich sind. «Sie hätten die rechtlichen Mittel, um überhöhte Mietpreise anzufechten. Die meisten tun das aber nicht.» Es brauche deshalb keine Verschärfung des Mietrechts.

Der Mieterverband nimmt die Mieterinnen und Mieter derweil in Schutz. «Das strukturelle Machtgefälle zwischen Vermieterseite und Mieterseite führt dazu, dass Mieterinnen ihre Ansprüche nicht geltend machen», sagt Generalsekretärin Imboden. Gemäss Umfragen fordern vier von zehn Mietern ihren Anspruch auf eine Mietzinssenkung bei der Senkung des Referenzzinssatzes nicht ein, weil sie Bedenken haben, dass sich das Verhältnis zur Vermieterschaft verschlechtern könnte. Für Imboden ist deshalb klar: «Es braucht ein wirksames Kontrollsystem, das die Vermieterschaft in die Pflicht nimmt.»

In Bundesbern wurden entsprechende Vorstösse lanciert. Nationalrätin Jac- queline Badran (60, SP) und Ständerat Carlo Sommaruga (62, SP) haben gleichlautende parlamentarische Initiativen eingereicht, welche die «periodische Revisionspflicht der Rendite auf Mieteinnahmen bei Wohnimmobilien» verlangen. Widerstand ist jedoch vorprogrammiert. Stattdessen droht den Mietern gar weiteres Ungemach. Mehrere Vorstösse von bürgerlicher Seite wollen nämlich den Mieterschutz abschwächen.

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