Virenjägerin über den Corona-Herbst
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Was dieses Mal anders ist:Virenjägerin über den Corona-Herbst

Virenjägerin Emma Hodcroft zum Corona-Herbst
«In der Schweiz steht viel mehr auf dem Spiel als im Rest Europas»

Vor einem Jahr schlitterte die Schweiz in eine verheerende zweite Corona-Welle. Epidemiologin Emma Hodcroft erklärt, was dieses Mal anders ist und ob die Schweiz die Pandemie bald für beendet erklären kann.
Publiziert: 01.10.2021 um 00:44 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2021 um 09:54 Uhr
Interview: Sarah Frattaroli

Stolpert die Schweiz in ihren nächsten Corona-Herbst mit explodierenden Fallzahlen und alarmierenden Hospitalisierungsraten? Oder kann sie die Pandemie bald für beendet erklären, wie es andere europäische Länder bereits getan haben? Wenn jemand die Antwort kennt, dann Emma Hodcroft (35). Sie ist genomische Epidemiologin und forscht an der Universität Bern zu den Virenstämmen von Corona. Auf Twitter nennt sie sich selber «Die Virenjägerin» und erreicht mit ihren Beiträgen ein Publikum von 65'000 Followern. Blick hat Emma Hodcroft an ihrem Wohnort in Basel zum Interview getroffen. Pandemiebedingt jagt sie die Coronaviren nämlich vom Homeoffice aus.

Blick: Sie sind soeben für die Hochzeit Ihrer Schwester nach England gereist, zum ersten Mal seit Ausbruch der Pandemie. Heisst das, die Normalität ist zurück?
Emma Hodcroft: Dass man wieder reisen kann, ist schon ein Anzeichen dafür, dass die Lage sich normalisiert. Das verdanken wir der Impfung. Es droht nicht mehr dasselbe Szenario wie letztes Jahr, wo wir in den Sommerferien unterschiedliche Virusvarianten über ganz Europa verteilt haben.

Sie sind also optimistisch, dass diesen Herbst kein starker Anstieg der Fallzahlen wie letztes Jahr droht?
Ich würde sagen, ich bin realistisch. Dank Impfen und Testen reduzieren wir das Risiko. Aber wir müssen achtsam bleiben. Bisher war es ein milder Herbst, wir haben uns viel draussen aufgehalten. Sobald die Temperaturen sinken, könnten wir auch einen Anstieg der Fallzahlen sehen.

Die genomische Epidemiologin Emma Hodcroft forscht zu den Virenstämmen von Corona.
Foto: Nathalie Taiana
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Reicht die Impfquote in der Schweiz denn nicht aus, um das zu verhindern?
Nein. Allein in der Risikogruppe der über 65-Jährigen gibt es weiterhin 150'000 Menschen, die nicht geimpft sind. Wenn sie sich anstecken, müssen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ins Spital. Bei den Jüngeren liegt die Impfquote gar noch viel tiefer.

Aber die Ansteckungen sinken seit drei Wochen. Zeigt das nicht, dass wir die vierte Welle bereits besiegt haben?
Die Zahlen sind ermutigend. Sie zeigen: Wir haben die Lage unter Kontrolle. Es wäre aber gefährlich, daraus zu schliessen, dass wir die Pandemie besiegt haben und alle Vorsicht fahren lassen können.

Der Corona-Herbst in Zahlen

Vor einem Jahr lag die Summe der Neuinfektionen in der Schweiz über sieben Tage bei 27 pro 100'000 Einwohner. Ein guter Wert, es herrschte Optimismus im Land. Was danach geschah, ist bekannt: Die wöchentlichen Fallzahlen kletterten innert gerade einmal eines Monats von 27 auf 640. Ein Anstieg um mehr als Faktor 20.

Heute beträgt die Summe über sieben Tage pro 100'000 Einwohner 73. Wir starten also auf fast dreimal höherem Niveau als letzten Herbst. Wenn die Fallzahlen gleich steil ansteigen wie vor einem Jahr, liegt der Wert Ende Oktober bei über 1500. Die Folge: Spitäler und Pfleger wären am Anschlag, die Schweiz müsste wohl Tausende Tote beklagen.

Erschwerend kommt hinzu, dass diesen Herbst die Delta-Variante kursiert. Sie ist – je nach Schätzung – bis zu 60 Prozent ansteckender als die ursprüngliche Virusvariante vor einem Jahr.

Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: die Impfung. 64 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben bisher mindestens eine Dosis erhalten, 58 Prozent sind vollständig geimpft.

Das heisst aber auch: 36 Prozent der Bevölkerung haben keinerlei Impfschutz. Das sind gut drei Millionen Menschen. Sollten all diese Menschen innert kurzer Zeit erkranken, würde das Gesundheitssystem kollabieren.

Allerdings: Ein Teil der Ungeimpften sind Kinder unter zwölf Jahren, für die bisher keine Impfung zugelassen ist. Bei der am meisten gefährdeten Gruppe der über 80-Jährigen hingegen ist die Impfquote besonders hoch. Fast 90 Prozent haben in dieser Altersgruppe mindestens eine Impfdosis erhalten.

Vor einem Jahr lag die Summe der Neuinfektionen in der Schweiz über sieben Tage bei 27 pro 100'000 Einwohner. Ein guter Wert, es herrschte Optimismus im Land. Was danach geschah, ist bekannt: Die wöchentlichen Fallzahlen kletterten innert gerade einmal eines Monats von 27 auf 640. Ein Anstieg um mehr als Faktor 20.

Heute beträgt die Summe über sieben Tage pro 100'000 Einwohner 73. Wir starten also auf fast dreimal höherem Niveau als letzten Herbst. Wenn die Fallzahlen gleich steil ansteigen wie vor einem Jahr, liegt der Wert Ende Oktober bei über 1500. Die Folge: Spitäler und Pfleger wären am Anschlag, die Schweiz müsste wohl Tausende Tote beklagen.

Erschwerend kommt hinzu, dass diesen Herbst die Delta-Variante kursiert. Sie ist – je nach Schätzung – bis zu 60 Prozent ansteckender als die ursprüngliche Virusvariante vor einem Jahr.

Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: die Impfung. 64 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben bisher mindestens eine Dosis erhalten, 58 Prozent sind vollständig geimpft.

Das heisst aber auch: 36 Prozent der Bevölkerung haben keinerlei Impfschutz. Das sind gut drei Millionen Menschen. Sollten all diese Menschen innert kurzer Zeit erkranken, würde das Gesundheitssystem kollabieren.

Allerdings: Ein Teil der Ungeimpften sind Kinder unter zwölf Jahren, für die bisher keine Impfung zugelassen ist. Bei der am meisten gefährdeten Gruppe der über 80-Jährigen hingegen ist die Impfquote besonders hoch. Fast 90 Prozent haben in dieser Altersgruppe mindestens eine Impfdosis erhalten.

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Das heisst auch, dass wir Massnahmen wie Maskentragen im ÖV oder Zertifikatspflicht im Restaurant noch länger brauchen?
Genau. Ich weiss, Masken nerven. Niemand steht morgens auf und denkt sich: Endlich kann ich meine Maske aufsetzen, bis meine Brille beschlägt! Aber sie sind nun mal effektiv. Sie sorgen dafür, dass wir nicht zu strikteren Massnahmen greifen müssen. Sehen Sie es mal so: Wir haben derzeit doch eine ziemlich gute Balance. Praktisch alles ist wieder möglich, das Leben fühlt sich fast wieder normal an.

Frustriert Sie die tiefe Impfquote in der Schweiz?
Das ist in der Tat frustrierend. Milliarden Menschen weltweit haben die Impfung mittlerweile erhalten. Das belegt: Der Impfstoff ist unglaublich effektiv und unglaublich sicher. Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass die Leute der Wissenschaft trotzdem misstrauen.

Wie leisten Sie persönlich Aufklärungsarbeit?
Ich spreche viel mit Freunden, Familie und Bekannten. Ausserhalb meines persönlichen Umfelds ist es für mich in der Schweiz aber leider etwas schwierig, weil ich nicht fliessend Deutsch spreche. Ich könnte zum Beispiel keine offene Fragerunde hier in meinem Quartier für die Nachbarn organisieren. Umso mehr hoffe ich, dass ich mit meinen Posts auf Twitter und Facebook Menschen erreiche!

Die Virenjägerin

Emma Hodcroft (35) erforscht an der Universität Bern Virenstämme von Covid-19, um so neue Mutationen zu entdecken. Sie hat dazu die Open-Source-Plattform Nextstrain mitgegründet, wo Forscher aus der ganzen Welt ihre Ergebnisse eintragen. Hodcroft hat sich in der Pandemie einen Namen damit gemacht, wissenschaftliche Zusammenhänge kurz und knapp zu erklären. Allein auf Twitter folgen ihr dafür 65'000 Menschen. Hodcroft ist in den USA und Grossbritannien aufgewachsen. Ihre Eltern lebten getrennt, sie verbrachte einen Teil des Jahres in Texas, den anderen Teil in Schottland. Seit vier Jahren wohnt sie in Basel.

Foto: Thomas Meier. Basel, 16.02.21. Corona Helden Sobli Mag. Emma Hodcroft.
Foto: Thomas Meier. Basel, 16.02.21. Corona Helden Sobli Mag. Emma Hodcroft.
Thomas Meier

Emma Hodcroft (35) erforscht an der Universität Bern Virenstämme von Covid-19, um so neue Mutationen zu entdecken. Sie hat dazu die Open-Source-Plattform Nextstrain mitgegründet, wo Forscher aus der ganzen Welt ihre Ergebnisse eintragen. Hodcroft hat sich in der Pandemie einen Namen damit gemacht, wissenschaftliche Zusammenhänge kurz und knapp zu erklären. Allein auf Twitter folgen ihr dafür 65'000 Menschen. Hodcroft ist in den USA und Grossbritannien aufgewachsen. Ihre Eltern lebten getrennt, sie verbrachte einen Teil des Jahres in Texas, den anderen Teil in Schottland. Seit vier Jahren wohnt sie in Basel.

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Andere europäische Länder erklären die Pandemie bereits für beendet, darunter England, Norwegen und Dänemark. Voreilig?
Die Impfquote macht den Unterschied. In Dänemark sind 75 Prozent vollständig geimpft, in der Schweiz sind es unter 60 Prozent. Das ist einfach nicht vergleichbar. In der Schweiz ist das Risiko einer weiteren starken Welle viel höher als in den anderen europäischen Ländern. Hierzulande steht einfach mehr auf dem Spiel.

Wie hoch müsste die Impfquote denn sein?
Ich denke, in der Schweiz sollten wir auf mindestens 80 Prozent abzielen. Bei der Risikogruppe gar auf 100 Prozent. Auch weil der Impfschutz mit der Zeit nachlässt. Umso mehr brauchen wir die Herdenimmunität durch die Impfung.

Was halten Sie von Booster-Impfungen?
Es gibt bisher keine wissenschaftlichen Beweise, dass Booster-Impfungen Todesfälle verhindern. Denn selbst wenn der Impfschutz mit der Zeit nachlässt, ist man doch immer noch vor einem schweren Verlauf geschützt. Daher frage ich mich schon: Sollten wir Imfpdosen dafür verwenden, wenn ein Grossteil der Welt nicht einmal genug Impfstoff für die Risikogruppen und das medizinische Personal hat? Solange das Virus dort stark zirkuliert, laufen wir auch Gefahr, dass neue, noch gefährlichere Varianten entstehen.

Kommt nach Alpha, Beta, Gamma und Delta also bald der nächste Buchstabe, die nächste Mutante?
Zum Glück haben wir noch das ganze griechische Alphabet zur Verfügung! Denn eins ist klar: Das Virus wird weiter mutieren. Die Frage ist aber: Sind die neuen Varianten ansteckender, oder können sie möglicherweise die Immunantwort des Körpers umgehen? Das müssen wir im Auge behalten. Klar ist: Die nächste Variante wird wohl aus Delta heraus entstehen, wird also ein «Kind» der Delta-Variante sein.

Könnte diese Variante in der Schweiz entstehen, weil das Virus hier stärker zirkuliert als anderswo in Europa?
Alles ist möglich. Vor einem Monat haben wir in Basel eine neue Variante entdeckt. Diese Variante war zuvor schon anderswo in Europa zirkuliert. Hierzulande konnten wir dann nachvollziehen, wie sie sich von Basel-Stadt nach Basel-Land bewegte. Diese Variante war nicht beunruhigend, sie hat sich nicht durchgesetzt. Es ging vielleicht um 50 Fälle. Aber das Beispiel zeigt, wie genau wir mittlerweile verfolgen können, wie sich das Virus weiterbewegt.

Ihre Einschätzungen zur Pandemie haben Sie weit über die Schweiz hinaus bekannt gemacht. Hat Corona Ihre Karriere beflügelt?
Meine Karriere hat auf jeden Fall profitiert, ja. Ich konnte mit bekannten Wissenschaftlern aus der ganzen Welt zusammenarbeiten. Dafür bin ich dankbar. Aber mir sind auch viele Chancen durch die Lappen gegangen. Ich habe viel zu Covid geforscht, meine restliche Forschung liegen gelassen. Ich habe an der Uni Bern nur eine befristete Anstellung, das bereitet mir schlaflose Nächte. Ich würde unglaublich gerne in der Schweiz bleiben, aber ohne Job geht das nicht. Wie mir geht es vielen anderen. Wir müssen aufpassen, dass wir nach der Pandemie nicht ein Heer arbeitsloser Wissenschaftler haben, die viel im Kampf gegen diese Pandemie geleistet haben – und dann ohne Job dastehen.


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