Teuerung trifft unteren Mittelstand – Betroffene erzählen
«Vor zwölf Jahren war ich das letzte Mal in den Ferien»

Die Inflation trifft alle. Doch jene mit einem kleinen Portemonnaie trifft sie härter. Das sind aber längst nicht nur Sozialhilfebezüger! Auch der untere Mittelstand muss den Gürtel enger schnallen. Blick hat Betroffene besucht.
Publiziert: 20.09.2022 um 23:58 Uhr
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Aktualisiert: 21.09.2022 um 08:52 Uhr
Samuel Walder

Während andere ans Mittelmeer fliegen, macht Thomas Graf (61) aus Lenzburg AG Ferien in seinem kleinen Garten. «Die Pflanzen sind mein Luxus. Da kann ich immer so gut entspannen.» Graf wurde früh in die Pension geschickt, weil er wegen einer Hirnblutung nicht mehr in der Lage war zu arbeiten. Er verzichtet nicht aus Bescheidenheit auf Ferien – sondern aus purer Geldnot.

Die Inflation trifft ihn hart. «Ich habe mir einen neuen Sparplan gemacht», sagt Graf. «Ich verzichte jetzt auf Luxus wie Ferien und Restaurantbesuche.» Seit der Scheidung von seiner Frau bleibt Ende Monat nicht viel übrig. «Vor allem das Soziale leidet darunter.» Ein spontanes Mittagessen mit Freunden sei nicht mehr möglich.

«Ich mache mir Sorgen»
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Früh-Pensionär Thomas Graf:«Ich mache mir Sorgen»
Roman Britt lebt von 3000 Franken im Monat.
Foto: Samuel Walder
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Graf hat 4500 Franken pro Monat zur Verfügung und gehört damit nicht zu den Ärmsten, sondern zur Mittelschicht. Doch der am Dienstag veröffentlichte Comparis-Konsumentenpreisindex bestätigt: Die Teuerung trifft jetzt auch den unteren Mittelstand mit voller Kraft. Also all jene, die zwischen 3500 und 5000 Franken im Monat verdienen. «Die Schweiz schlägt sich im weltweiten Teuerungssturm vergleichsweise gut. Aber die extremen Preisaufschläge bei der Energie belasten vor allem Geringverdiener und die Mittelschicht», sagt Comparis-Finanzexperte Michael Kuhn (43).

Das beschäftigt auch die Politik. Am Mittwoch trifft sich der Nationalrat zu einer ausserordentlichen Session über die Kaufkraft. Diskutiert werden diverse Vorstösse: von einer Erhöhung der AHV-Rente über höhere Prämienverbilligungen bis zu tieferen Benzinpreisen.

800 Franken müssen reichen

Auch Roman Britt (51) aus Bad Zurzach AG gehört zu den Betroffenen. Er sitzt am Tisch in seiner Dreizimmerwohnung, für die er monatlich 1200 Franken Miete zahlt. Er trinkt einen selbst gebrauten Tee. «Schon lange hatte ich keine Ferien mehr», sagt der IV-Bezüger zu Blick. Vor zwölf Jahren war er das letzte Mal in Schottland.

«800 Franken müssen reichen»
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IV-Bezüger Roman Britt:«800 Franken müssen reichen»

Jetzt, mit den steigenden Preisen, hat er sich einen genauen Sparplan zusammengestellt. «Ich habe einen Lohn von etwa 3000 Franken», sagt Britt. Abzüglich seiner Miete und aller anderer fixer Ausgaben bleiben ihm am Ende des Monats 800 Franken. Das muss fürs Essen, für neue Kleider und die Freizeitgestaltung reichen.

«Meine Krankenkasse wird um 10 Prozent teurer. Strom steigt von 18,2 Rappen auf 65,6 Rappen pro Kilowatt. Und die Steuern wurden von 115 Prozent auf 128 Prozent erhöht», rechnet Britt vor. Ob das jährliche Geburtstagsessen stattfinden könne, stehe noch in den Sternen.

Die Prognose für Britt, Graf und Dutzende weitere Betroffene, mit denen Blick gesprochen hat, sieht nicht gut aus: Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) rechnet in seiner neusten Prognose vom Dienstag mit einer Jahresteuerung von 3 Prozent (statt 2,5). Für das kommende Jahr schätzen die Experten die Teuerung auf 2,3 Prozent (statt 1,4).

So wenig Auto fahren wie möglich

Lorenz Bertsch (53) fürchtet, dass die Schweiz ein Problem kriegt. «Und zwar spätestens im Frühling», wie der Sozial- und Schuldenberater bei der Caritas St. Gallen vorhersagt. Wenn dann alle Rechnungen reinflattern, werde auch der untere Mittelstand zu kämpfen haben. «Das ist erschreckend», sagt Bertsch. «Dass ein Sozialhilfebezüger Geldprobleme hat, ist nichts Neues. Aber dass jetzt auch Familien mit einem mittleren Einkommen so heftig sparen müssen, ist neu.»

«Weniger duschen, weniger heizen und so wenig Auto fahren wie möglich», rät Bertsch den Betroffenen. «Vor allem jetzt, wo wir in einer Stromkrise stecken, sollten die Menschen sparen.» Er empfiehlt den Betroffenen, einen Sparplan zu erstellen und auch beim kleinen Luxus, wie bei einem Restaurantbesuch, zu sparen.

Selbst Wandern wurde zu teuer

Die Geringverdiener trifft es am härtesten. Menschen, die unter 3000 Franken im Monat verdienen, können kaum mehr etwas auf die Seite legen. So geht es Maya H. (76) aus dem Kanton Schwyz. Sie will ihren ganzen Namen nicht in der Zeitung lesen – zu gross ist das Stigma der Armut.

«Ich lebe von 2470 Franken im Monat», sagt die Rentnerin. Sie sitzt in einem Café und trinkt einen Café crème. «Wenn alle Rechnungen bezahlt sind, bleiben mir noch 800 Franken, für Verpflegung und weitere Ausgaben.» Ferien, Kleider und Schuhe sind Luxus für sie. «Es kann doch nicht sein, dass ein Kilo Äpfel 6 Franken kostet», nervt sich H.

Früher war H. in einer Wandergruppe. Jetzt sind die Ausflüge zu teuer geworden. «Ich mache jetzt gerne eine Velotour, wo ich mein Essen und Trinken von zu Hause mitnehme.» Ob sie je wieder sparen und Ende Monat ein paar Franken aufs Sparkonto überweisen könne, wisse sie nicht.

Trotzdem will sich H. nicht beschweren: «Schliesslich bin ich mein ganzes Leben gut über die Runden gekommen.» Auch Thomas Graf aus Lenzburg versucht, sich auf die kleinen Freuden im Alltag zu konzentrieren – seine Blumen. «Ich freue mich sehr, wenn ich wieder eine neue Spritzkanne habe oder eine neue Pflanze in einen Topf setzen kann.» Wenn das Konto denn einen Einkauf im Gartengeschäft zulässt.

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