Nestlé-Präsident Bulcke über Kovi und Moralismus
«Es gibt auch das Menschenrecht auf Arbeit und Nahrung!»

Nestlé-Präsident Paul Bulcke sagt, die Konzernverantwortungs-Initiative würde den Menschen vor Ort schaden statt nützen. Er erklärt, warum.
Publiziert: 20.11.2020 um 00:49 Uhr
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Aktualisiert: 22.11.2020 um 11:37 Uhr
  • «Bei der Initiative geht es um einen moralischen Absolutismus.»
  • «Wenn die Initiative angenommen wird, dann wird das den Menschenrechten und der Umwelt schaden.»
  • «Schweizer Unternehmen im Ausland tragen aktiv zur Entwicklung bei.»
  • «Der Gegenvorschlag, der bei einem Nein zur Anwendung kommt, steht im Einklang mit der Realität vor Ort.»
  • «Bei einem Ja stellt sich bei uns die Frage, ob wir das Risiko in gewissen Ländern noch tragen können.»
  • «Wir haben 150'000 Lieferanten weltweit. Niemand kann jedem Geschäftspartner dauernd über die Schulter schauen.»
  • «Ich frage mich manchmal schon, ob es bei dieser Abstimmung wirklich um den Schutz der Menschenrechte und der Umwelt geht oder bloss darum, das Gewissen zu beruhigen.»
Paul Bulcke (66) ist seit 2017 Verwaltungsratspräsident von Nestlé.
Foto: Bloomberg via Getty Images
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Interview: Christian Dorer

Nestlé-Präsident Paul Bulcke (66) arbeitet seit 41 Jahren für den grössten Lebensmittelkonzern der Welt, war stationiert in Peru, Chile, Ecuador, Portugal, Tschechien, Deutschland und natürlich am Hauptsitz in Vevey VD. Ursprünglich Belgier, ist er seit kurzem Schweizer Bürger.

Das Gespräch mit BLICK findet auf Deutsch statt. Dem obersten Chef über rund 300'000 Mitarbeitenden in 187 (!) Ländern ist es ein Anliegen, vor der Konzernverantwortungs-Initiative zu warnen, auch aus eigener Erfahrung in Entwicklungs- und Schwellenländern. Er sagt: «Menschenrechte und Umweltschutz sind enorm wichtig. Jetzt haben aber die Emotionen Überhand genommen. Bei der Initiative geht es um einen moralischen Absolutismus. Die Diskussion ist nicht ehrlich. Denn wenn die Initiative angenommen wird, dann wird das den Menschenrechten und der Umwelt schaden.»

BLICK: Herr Bulcke, beim Ja zur der Abzocker-Initiative 2013 gab aus der Wirtschaft einen grossen Aufschrei, in der Praxis hat sie damit leben gelernt. Ist das vergleichbar?
Paul Bulcke: Das ist ein anderes Thema. Diese Initiative ist viel gravierender, weil sie zwei grosse Mängel hat: Unternehmen haften nicht nur für ihr eigenes Tun vor Ort, sondern auch für die Aktivitäten von Geschäftspartnern. Und wir Unternehmen sind bei einer Anklage schuldig, bis wir das Gegenteil bewiesen haben.

Ist es nicht vermessen, wenn Sie befürchten, dass Sie von jedem für alles angeklagt würden?
Wir müssen beweisen, dass wir alles getan haben, um der Sorgfaltspflicht nachzukommen. Das gibt vor allem Arbeit für Juristen, eine riesige Bürokratie wird aufgebaut. Weder dem Bauern in Nicaragua oder Ghana noch den Konsumenten oder der Umwelt ist damit geholfen. Die NGOs brauchen Visibilität und Aufmerksamkeit, um sich zu finanzieren. Es wird Klagen geben. Unser Ruf wird dadurch beschädigt, auch wenn wir das Verfahren am Ende gewinnen.

Der Weltgewandte

Paul Bulcke (66) begann 1979 als Trainee bei Nestlé, dem weltgrössten Nahrungsmittelhersteller mit Sitz am Genfersee. Er arbeitete rund um den Globus in verschiedenen Positionen, war acht Jahre lang CEO und ist seit 2017 Verwaltungsratspräsident. Der Wirtschaftsingenieur hat belgische Wurzeln und ist seit kurzem Schweizer Bürger. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und spricht sechs Sprachen. Nestlé ist in 187 Ländern präsent, betreibt in 84 Ländern total 403 Fabriken und beschäftigt 291'000 Mitarbeitende. 2019 machte Nestlé einen Umsatz von 92,6 Milliarden Franken.

Paul Bulcke (66) begann 1979 als Trainee bei Nestlé, dem weltgrössten Nahrungsmittelhersteller mit Sitz am Genfersee. Er arbeitete rund um den Globus in verschiedenen Positionen, war acht Jahre lang CEO und ist seit 2017 Verwaltungsratspräsident. Der Wirtschaftsingenieur hat belgische Wurzeln und ist seit kurzem Schweizer Bürger. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und spricht sechs Sprachen. Nestlé ist in 187 Ländern präsent, betreibt in 84 Ländern total 403 Fabriken und beschäftigt 291'000 Mitarbeitende. 2019 machte Nestlé einen Umsatz von 92,6 Milliarden Franken.

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Würden Sie sich bei einem Ja zur Initiative aus gewissen Ländern zurückziehen?
Drohungen sind fehl am Platz. Wenn wir jedoch in einem Land tätig sind, das instabil ist und bei dem wir Klagen nicht ausschliessen können, fragen wir uns, ob sich unser Engagement lohnt. Ich arbeitete 1980 bei Nestlé in Peru. Im damaligen Konflikt wurden 70'000 Menschen ermordet. Fast alle Unternehmen haben das Land verlassen, Nestlé ist geblieben – aus Loyalität zu den Konsumenten, zu den Bauern, zu unseren Mitarbeitenden und ihren Familien. Mit einer solchen Initiative hätten wir möglicherweise zweimal nachdenken müssen, ob wir bleiben wollen.

Sie sagen damit indirekt, dass wirtschaftlicher Fortschritt nicht ohne Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung geht.
Nein, im Gegenteil! Menschenrechte und Umweltschutz sind das Fundament für eine nachhaltige Entwicklung. Die Realität ist, wie sie ist. Es gibt in vielen Ländern Menschenrechtsverletzungen – und zwar ausserhalb unserer Fabriken. Es ist ein riesiges soziales Problem. Diese Länder sollen sich durch wirtschaftliche Entwicklung aus der Armut und deren Folgen befreien können. Dabei sollten wir uns bewusst sein, dass Schweizer Unternehmen im Ausland aktiv zur Entwicklung beitragen.

Die Initianten argumentieren, die Justiz sei in vielen Ländern nicht unabhängig und wage es nicht, ein Urteil gegen einen mächtigen Konzern zu fällen.
Das sind leere Behauptungen und die Praxis zeigt etwas anderes. Es gibt heute schon die Möglichkeit, gerichtlich gegen Verstösse von Firmen vorzugehen. Menschenrechte und die Sorge zur Umwelt sind unverhandelbar. Der Gegenvorschlag, der bei einem Nein zur Anwendung kommt, ist stark und verpflichtend. Er steht im Einklang mit der Realität vor Ort. Wir sind für Regeln und wissen, dass Selbstverantwortlichkeit alleine nicht reicht.

Weshalb bezeichnen Sie die Initiative als schädlich für Menschenrechte und Umwelt?
Bei einem Ja stellt sich bei uns die Frage, ob wir das Risiko in gewissen Ländern noch tragen können. Beispiel Venezuela: Das Land ist für Menschenrechtsverletzungen bekannt. Gleichzeitig ist die Bevölkerung schlecht ernährt. Unsere 2500 Mitarbeitenden harren dort aus, haben ein Einkommen und können ihre Kinder zur Schule schicken. Es gibt auch das Menschenrecht auf Arbeit und Nahrung! Wir arbeiten in Venezuela direkt mit Bauern und Lieferanten zusammen – warum sollten wir dies weiterhin tun, wenn wir unter solch beelendenden Umständen auch für das Verhalten von Lieferanten geradestehen müssen?

Nestlé unterstützt als einziges Schweizer Unternehmen eine europäische Initiative, die sehr ähnliche Anliegen wie die Konzernverantwortungsinitiative verfolgt. Warum?
Regeln müssen sein! Und zwar am besten solche, die weltweit und für alle gelten. Es gibt jedoch zwei rote Linien: die Haftung für Dritte und die Umkehr der Beweislast. Wir sind für den Gegenvorschlag, der international abgestimmt ist.

Auch der Gegenvorschlag sieht eine Sorgfaltspflichtprüfung Ihrer Zulieferer vor.
Das ist in Ordnung. Das Problem ist die Kombination von ausgedehnter Haftung, Beweislastumkehr und Klagerecht in der Schweiz, wie das die Initiative will. Wir haben 150'000 Lieferanten weltweit, viele Millionen Menschen sind mit unseren Aktivitäten verbunden. Wir führen jährlich 2500 bis 3000 Audits durch, auch bei den Lieferanten. Aber niemand kann jedem Geschäftspartner dauernd über die Schulter schauen.

Wie erklären Sie sich, dass der Abstimmungskampf so heftig ausfällt?
Auch ich engagiere mich persönlich und mit Herzblut: Die Initianten sagen, es gehe nicht um Firmen wie Nestlé, sondern um ein paar schwarze Schafe. In der Abstimmungspropaganda zielen sie aber auch auf uns und setzen damit grundsätzlich die Arbeit seriöser Schweizer Firmen in armen Ländern aufs Spiel. Das finde ich heuchlerisch. Ich frage mich manchmal schon, ob es bei dieser Abstimmung wirklich um den Schutz der Menschenrechte und der Umwelt geht oder bloss darum, das Gewissen zu beruhigen.

Sie sind seit kurzem Schweizer. Haben Sie bereits brieflich abgestimmt?
Ja – und ich bin sicher, dass Sie wissen, wie (lacht).

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