Invalidenversicherung bevorteilt Gutverdienende
Keine IV-Rente, weil er als LKW-Fahrer zu wenig verdiente

Der ehemalige Lastwagenfahrer Christian Rüdlinger (59) kämpft seit Jahren um eine Invalidenrente – vergeblich. Hätte er vor seiner Erkrankung mehr verdient, könnte er sie längst beziehen.
Publiziert: 09.11.2019 um 23:21 Uhr
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Aktualisiert: 10.11.2019 um 15:59 Uhr
Thomas Schlittler

Die A1 bei Wil SG, Autobahnraststätte Thurau: Es giesst wie aus Kübeln. Geschützt von einem schwarzen Regenschirm, begutachtet Christian Rüdlinger (59) mit Kennerblick die Lastwagen auf dem Parkplatz. Er war früher selbst LKW-Fahrer, kennt jeden Fahrzeugtyp.

Erinnerungen werden wach: «Kurz nach der Lehre, Ende der 70er-Jahre, hat mich mein Chef nach England geschickt. Knapp 20 Jahre fuhr ich mit einer sauteuren Ladung quer durch Europa – eine geile Zeit!»

Lastwagenfahren war für den St. Galler mehr als ein Job: «Es war meine Leidenschaft!» Bis kurz nach der Jahrtausendwende führt Rüdlinger ein Leben am Lenkrad. Dann wird ihm das Steuer aus der Hand gerissen: Das Herz streikt. 2001 muss er operiert werden, erhält drei Stents, damit seine Blutgefässe offen bleiben.

Lastwagenfahren war für den St. Galler Christian Rüdlinger mehr als ein Job: «Es war meine Leidenschaft!»
Foto: Andrea Brunner
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Es ist der Beginn einer nicht enden wollenden Krankheitsgeschichte. Spickfinger, die ein einfaches Öffnen und Schliessen der Hände verhindern. Arthrose. Knie- und Rückenprobleme. Infekt der Halswirbelsäule. Im Februar dieses Jahres kam ein entzündeter Blinddarm dazu, vor einigen Wochen musste Rüdlinger auch noch eine Operation am Hals über sich ergehen lassen.

Behörden halten ihn für arbeitsfähig

An Arbeit ist nicht mehr zu denken. Eine IV-Rente hat Rüdlinger trotz allem nie erhalten. Zuletzt wurde sie ihm im März 2018 verweigert. Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen schrieb: «Unsere Abklärungen haben ergeben, dass in der Tätigkeit als Lastwagenchauffeur aus medizinischer Sicht weiterhin eine 60 %ige Arbeitsfähigkeit besteht.»

In jeder «adaptierten», also angepassten Tätigkeit betrage die Arbeitsfähigkeit gar 100 Prozent – sofern diese «überwiegend sitzend», «ohne häufiges Treppen oder Leitern steigen» und «nicht in hockender oder kniender Position» verrichtet werden müsse.

Die IV-Stelle kommt zum Schluss, dass Rüdlinger «mit gesundheitlicher Einschränkung» 66'720 Franken pro Jahr verdienen könne. «Ohne gesundheitliche Einschränkung» geht die Behörde beim ehemaligen LKW-Fahrer von einem Jahreseinkommen von 69 '371 Franken aus.

Seine Erwerbseinbusse beträgt demnach 2651 Franken, also vier Prozent. Folglich ist auch der Invaliditätsgrad von Rüdlinger lediglich vier Prozent. Fazit: «Kein Anspruch auf eine Invalidenrente.»

Der St. Galler Rechtsanwalt Ronald Pedergnana (57), der Christian Rüdlinger vertritt, findet diese Berechnungsmethode des Invaliditätsgrades stossend: «Leute mit einem eher tiefen Lohn, die wie alle anderen in die IV einzahlen, haben im Bedarfsfall kaum eine Chance, eine IV-Rente zu bekommen.»

Zur Veranschaulichung zeigt Pedergnana die Invaliditätsberechnung für einen anderen Klienten. Dieser verdiente ohne Behinderung 112'027 Franken pro Jahr. Wegen eines Unfalls hat er nun, wie Rüdlinger, Rücken- und Knieprobleme.

Laut Berechnungen der Behörden kann der 53-Jährige heute mit Behinderung noch 49'421 Franken verdienen. Erwerbsausfall: 62'606 Franken, also 56 Prozent. Demnach beträgt auch der Invaliditätsgrad des Mannes 56 Prozent. Er hat Anspruch auf eine halbe IV-Rente, 958 Franken pro Monat.

Hätte Rüdlinger vor seinen gesundheitlichen Problemen ebenfalls 112'027 Franken verdient, läge seine theoretische Erwerbseinbusse bei 40 Prozent – und er würde heute zu 40 Prozent als invalid gelten, nicht nur zu vier Prozent. Kurz: Er hätte Anspruch auf eine Viertel-IV-Rente.

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«Ein Bschiss der Reichen»

Für Anwalt Pedergnana ist deshalb klar: «Die IV ist ein Beschiss der Reichen an den Armen, der vom Bundesgericht, dem Bundesrat und dem Parlament geschützt wird.»

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) bestreitet nicht, dass Gutverdiener durch die IV-Berechnungsmethode bessere Chancen auf eine Rente haben. Sprecher Harald Sohns: «Dieses System führt einerseits dazu, dass Versicherte mit ausgesprochen hohen Löhnen eher Anspruch auf eine ganze Rente haben als Versicherte mit tiefen Löhnen.» Andererseits sei es aber auch so, dass Gutverdiener zumeist nicht auf eine Rente angewiesen seien, die IV aber auf deren sehr hohe Beiträge.

Sohns: «Der Anspruch auf eine IV-Rente ist deshalb vollständig unabhängig davon, wie arm oder reich jemand ist.» Würde man diesen Grundsatz kippen, also von einem bestimmten Einkommen an keine Renten mehr zusprechen, müsste man diese Versicherten wohl auch von der Beitragspflicht be­freien. «So liesse sich die IV kaum finanzieren», gibt BSV-Sprecher Sohns zu bedenken.

Christian Rüdlinger nützen diese grundsätzlichen Überlegungen wenig. Er lebt vom Sozialamt.

Wenn der LKW-Fahrer an das Gutachten seines IV-Arztes denkt, wird er immer noch wütend: «Wer diesen Bericht liest, könnte meinen, ich sei ein gesunder Mann.» Früher konnte er sich ein Leben ohne Lenkrad nicht vorstellen. Heute ist für ihn ein Leben ohne Schmerzmittel unvorstellbar.

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